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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Anstalten zu gehen. »Sie haben eben einen Anfall erlitten, ja? Kein Wunder, bei dieser erschütternden Nachricht! Wir sind alle schockiert. Soll ich die Schulschwester rufen, damit Sie Ihren Blutdruck misst?«
    »Danke. Es geht mir gut.« Ihm gelang sogar ein Lächeln.
    »Halten Sie die Ohren steif. Und Sie, meine Herren, quälen Sie unseren Boris nicht allzu sehr. Er ist übrigens Verdienter Lehrer Russlands, unsere Schule ist sehr stolz auf ihn. Die Kinder achten und mögen ihn sehr.«
    Er wurde rot.
    »Danke. Was ist mit der 10a?«
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Albina hat eine Freistunde, sie wird Sie vertreten.«
    »Und meine Klasse?«
    »Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Vielleicht machen wirUnterricht, vielleicht rede ich einfach mit ihnen. Sie wissen alle Bescheid, sie sitzen ganz still da, wie betäubt.« Die Lehrerin warf einen Blick auf den grauhaarigen Ermittlungsleiter und fügte herausfordernd hinzu: »Karina hatte nach dem Verhör einen hysterischen Anfall.«
    Solowjow ignorierte die Bemerkung. Er rückte seinen Stuhl an den Tisch und füllte Formulare aus, den Kopf tief gesenkt.
    »Entschuldigen Sie bitte, Sie müssen zum Unterricht, und wir müssen weiterarbeiten.« Der dicke Major fasste die Lehrerin unter und geleitete sie zur Tür. Zum Abschied lächelte sie Boris traurig an und nickte ihm aufmunternd zu.
     
    »She… She…«, wiederholte Ika, außerstande, die weiche, harmlose Silbe »nja« über die Lippen zu bringen.
    Sie stotterte wieder, sogar schlimmer als früher. Dabei hatte sie gedacht, dass nichts auf der Welt sie mehr ernstlich erschrecken, enttäuschen oder erschüttern könnte. Und geglaubt, sämtliche Tränen bereits in ihrer Kindheit geweint zu haben.
     
    Nach der Schule war Ika nach Moskau gekommen, hatte sich aber nicht um einen Studienplatz beworben. Marinas stürmisches Leben hatte sie sofort in seinen Bann gezogen. Halb Freundin, halb Hausangestellte, lebte sie in einem gemütlichen kleinen Zimmer neben der Küche und wusch, putzte und kochte. Wenn Gäste kamen, saß sie gleichberechtigt mit im Wohnzimmer. Marina gab ihr Wirtschafts- und Taschengeld. Katschalow behandelte sie freundlich.
    Er war oft auf Gastspiel, und Marina fuhr meist mit. Dann blieb Ika allein in der riesigen leeren Wohnung, sah fern oder schaute sich Videos an, lümmelte auf dem Sofa herum und aß unentwegt. Hin und wieder stellte sie sich auf die Waage im Bad und sah, dass der Zeiger immer dichter auf die 80 zu rückte. Aber das war ihr egal. Sie befand sich noch immer in einer seltsamen, dumpfen Erstarrung. Sie aß, schlief, hantierte mit dem lärmenden Staubsauger, schob einen Einkaufswagendurch den Supermarkt, füllte Spül- und Waschmaschine. Sie trug formlose, sackartige Jeans, weite karierte Männerhemden und Turnschuhe. In den Spiegel schaute sie nie, nicht einmal, wenn sie sich wusch und die Zähne putzte.
    Im Januar hatte Katschalow Geburtstag. Er feierte in einem schicken Restaurant außerhalb der Stadt. Marina hatte Ika vorgewarnt, dass sie gegen vier Uhr morgens zurückkommen würden, vermutlich mit einem Haufen Leute, sie sollte also für einen leichten Imbiss sorgen.
    Ika bereitete alles vor und schlief ein. Sie erwachte von Lärm und Gelächter und stand auf.
    Als sie wieder einmal mit einem Tablett aus der Küche kam, stieß sie auf zwei Männer, die sie nicht kannte. Sie stritten erregt. Der eine war klein, fett und glatzköpfig, um die fünfzig, der andere größer, kräftig gebaut, aber nicht fett, um die dreißig. Breite Schultern, dunkelblondes Bärtchen, das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    »Klar, in deinen Geschichten kannst du jede Missgeburt in eine Schönheit verwandeln, aber wenn im wahren Leben eine hässlich ist, kannst du das nicht ändern«, sagte der Glatzkopf.
    »Und ob!«, rief der Bärtige. »Ich schreibe nie über Dinge, die im wahren Leben nicht vorkommen!«
    »Lass gut sein! Dein Aschenputtel, das zur Pornodiva wird – das ist doch kompletter Blödsinn! Du solltest dich endlich entscheiden, was du bist, ein seriöser Schriftsteller oder ein marktorientierter Schreibwütiger, der Hausfrauenträume befriedigt.«
    »Wieso Hausfrauen? Die lesen mich überhaupt nicht!«
    »Zu Recht! Du bist nämlich ein total amoralischer Typ!«
    Ika fürchtete, die beiden würden sich gleich prügeln, aber sie lachten, der Bärtige versetzte dem anderen einen freundschaftlichen Klaps auf die Glatze. Plötzlich verstummten beide und starrten Ika an.
    »Halt!«, befahl

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