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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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stirbt ab. Er hat Tausende Formeln im Kopf, arbeitet am Computer, liest und schreibt in drei Sprachen.«
    »Die beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten verschwinden als Letztes«, sagte Olga.
    »Na also! Das heißt, er kann noch arbeiten!«
    »Arbeiten ja. Aber ohne ständige Aufsicht leben, sich im Alltag selbst versorgen, allein auf die Straße gehen – das nicht mehr. Sie selbst haben ihn zu uns gebracht«, erinnerte Olga die Frau.
    »Ja, aber doch nur zur Untersuchung. Ich wollte mich überzeugen, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Und Sie sagen mir, sein Gehirn stirbt ab, und es gibt keine Hoffnung.«
    »Sie haben vierzig Jahre zusammengelebt. Sie haben zwei Kinder und drei Enkel. Sie lieben ihn, und er liebt sie. Ja, seinGehirn stirbt ab, und zwar unaufhaltsam. Wsewolod wird nach und nach wieder zum Kind. Darum braucht er Sie gerade jetzt mehr denn je«, sagte Olga rasch.
    Aber die Frau schien sie nicht zu hören. Sie stand auf, öffnete die Tür und drehte sich noch einmal zu Olga um.
    »Das Gehirn stirbt ab, ein unaufhaltsamer Prozess … Mein Gott, warum seid ihr Ärzte so grausam? Wissen Sie, auch Sie werden einmal alt. Und dann wird irgendjemand so über Sie sprechen.«
    Sie ging hinaus und knallte die Tür zu. Olga schloss die Augen und massierte sich die Schläfen.
    Stimmt, ich werde auch einmal alt. Durchaus möglich, dass ich ebenfalls Arteriosklerose bekomme. Ich rauche, schlafe zu wenig und trinke literweise Kaffee. Ich bin freiwillig durch die Hölle gegangen, die ich jetzt gern vergessen würde. Die Grenze zwischen Gesundheit und Wahnsinn ist dünn, sie kann sich jederzeit auflösen, wie die Horizontlinie bei dichtem Nebel.
    Olga stand auf, nahm die Zigaretten aus der Handtasche, öffnete das Fenster und zündete sich eine an, was sie in ihrem Sprechzimmer normalerweise nicht tat. Der Rauch stieg ihr in die Augen, ihre Wimperntusche zerlief. Sie ging mit einem Papiertaschentuch zum Spiegel. Doch sie sah darin nicht sich selbst, sondern das Gesicht des ersten Opfers, des Mädchens, das vor zwei Jahren ermordet worden war.
    Weiches goldblondes Haar. Hohe helle Augenbrauen. Ein vollkommen kindliches Gesicht. Zu kindlich, um tot zu sein. Von jenen drei Opfern war sie die Jüngste gewesen. Höchstens zwölf. Die Zweite, rotblond und sommersprossig, war größer und rund zwei Jahre älter. Dann war ein Junge gefunden worden, im selben Alter wie die Rothaarige. Alle drei wirkten sehr zart und feingliedrig. Glatte, schlanke, gepflegte Körper ohne ein einziges Haar und ohne einen einzigen Pickel. Gepflegte Hände und Füße. Die Fingernägel der Mädchen lackiert. Professor Guschtschenko hatte Nabokov zitiert: »ZweiNympchen und ein kleiner Faun.« Das war für Olga der Anstoß gewesen, sich auf Pornoseiten im Internet umzusehen. Das und dass die Kinder nicht identifiziert werden konnten. Sie sahen nicht aus wie Obdachlose. Die neben den Leichen verstreuten Kleider waren neu und modisch, die Plomben in den Zähnen der Kinder aus teurem, ausländischem Material. Die Lippen des rothaarigen Mädchens waren mit Silikon aufgespritzt. Ein winziger kosmetischer Eingriff, aber nicht billig.
    Ein Erwachsener musste sich um sie gekümmert haben, um ihre Gesundheit und ihr Äußeres. Aber er hatte es nicht für nötig gehalten, ihr Verschwinden zu melden oder zu reagieren, als über die Massenmedien landesweit nach jemandem gesucht wurde, der die toten Kinder identifizieren konnte.
    Ich will vergessen. Ich will nie wieder in diese Hölle zurückkehren, dachte Olga und flüsterte: »Moloch. Du hast dich doch nicht beherrschen können. Du hast es wieder getan. Das ist deine Handschrift, nicht wahr? Die Abstände zwischen den ersten drei Morden waren nur kurz, du hast die drei innerhalb von sechs Monaten getötet. Normalerweise forcieren Psychopathen ihr Tempo, die Abstände werden immer kürzer. Aber du hast aufgehört, dich in deine Höhle verkrochen. Anderthalb Jahre keine einzige Leiche. Und nun dieses Mädchen. Du hast sie aus dem Netz gefischt, genau wie die drei anderen. Sie hat wie die drei in Pornofilmen mitgemacht. Du wolltest sie bestrafen. Oder vor ihrem sündigen Leben retten. Doch bei aller Vorsicht bist du bei deinem Ritual geblieben: Babyöl. Und diesmal noch ein Nuckel. Soll das heißen, dass du dich demnächst an Babys vergreifst?
    Olga hatte einen ganz trockenen Mund; sie fand im Kühlschrank eine Flasche Wasser und trank einen Schluck daraus.
    »Aber wir kriegen dich, du Bastard.« Olga kniff die

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