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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Zweifel mehr.
    Er wurde tatsächlich verfolgt, und zwar dreist und offen. Er sollte also vor allem eingeschüchtert werden. Nicht getötet – das hätten sie längst tun können –, sondern nur eingeschüchtert.
     
    Nikonow jammerte wieder: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!« Doch plötzlich schüttelte er den Kopf, leckte sich die Lippen und fragte sachlich: »Hast du vielleicht was Süßes?«
    »Nein.«
    »Also, Genossen, alle herhören! Heute findet eine Sitzung der Kommission für außerordentliche Ideologie statt, Erscheinen Pflicht«, übertönte eine hohe, schrille Stimme das Stöhnen, Schniefen und Murmeln.
    Vor dem Waschbecken an der Tür stand ein dicker alter Mann namens Schpon, schaute in den Spiegel und legte sorgfältig seine langen, dünnen Haarsträhnen über die Glatze. Er hatte einmal im Moskauer Parteikomitee gearbeitet und dort eine Abteilung geleitet. Er leitete noch immer, nur jetzt in einer anderen Dimension, im behaglichen Filznest seiner Altersdemenz.
    Schpon ging es gut. Nikonow dagegen schlecht. In der Nacht hatte er Mark mit Geschichten von seiner schönen Natascha genervt, ihm erzählt, dass alle Männer ihr nachschauten, ob alt, ob jung, und ihm sogar ein Foto von ihr gezeigt. Ein dralles Weib mit großen Brüsten, süßem Lächeln und kalten, frechen Augen.
    »Hast du zufällig ein Handy dabei?«, fragte Nikonow im Flüsterton. Dabei beugte er sich dicht zu Mark, und dieser spürte seinen sauren Atem.
    »Ich muss unbedingt meine Frau anrufen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Sie macht sich Sorgen.«
    »Bist du sicher? Vielleicht ist sie im Gegenteil ganz froh?«
    »Was? Was sagst du da?«, kreischte der Alte und sprang auf. Seine Lippen waren mit Speichelkruste überzogen, seine Augen quollen hervor und füllten sich mit Tränen.
    »Sie hat längst einen anderen Kerl, gesund und stark. Was soll sie noch mit dir altem Scheißer? Sie hat dich mit Absicht hier abgeladen, damit du schneller krepierst und sie die Wohnung kriegt.«
    Fünf Minuten später wurde der heulende, zitternde Nikonow von Pflegern fortgebracht. Die anderen Insassen des Zimmers bemerkten nichts, sie liefen schlurfend und vor sich hin murmelnd in den Flur – sich die Beine vertreten, auf Besuch warten oder fernsehen.

Siebtes Kapitel
    Die flache, mit schwarzem Samtpapier ausgeschlagene Holzschatulle lag in einem Geheimversteck auf dem Hängeboden. Sie enthielt in Zigarettenpapier eingewickelte Haarsträhnen. Eine goldblond, wie Chrysanthemenblätter, daneben ein Paar silberne Ohrringe mit Amthysten. Eine rot wie eine Flammenzunge, dazu ein goldener Ring mit einem winzigen dunklen Rubin. Eine aschblond, kurz und dick, nebst einem Silberkettchen mit Kreuzanhänger.
    Der Wanderer setzte sich auf den Fußboden und bewunderte seine Schätze, ein abwesendes, fast schwachsinniges Lächeln im Gesicht.
    Nach zwanzig Minuten zuckte er zusammen wie von einem Stromschlag. Sorgfältig verstaute er seine Trophäen wieder in der Schatulle, darunter auch die neueste, einen weichen kastanienbraunen Zopf und ein Medaillon.
    Der Wanderer war hungrig. Während in der Mikrowelle Hähnchenflügel auftauten, räumte er auf. Er brachte die Leiter zurück in die Toilette, spülte das Geschirr, wischte den Herd ab und fegte den Boden. Normalerweise hörte er beim Putzen Musik, am liebsten Mozart oder Wagner. Doch jetzt brauchte er Stille.
    Ein kräftiger Mann im Trainingsanzug. Düsteres, angespanntes Gesicht. Starke, schöne Hände. Präzise Bewegungen.
    »Du hast alles richtig gemacht. Aber das ist zu wenig, zu wenig. Du darfst deine heilige Mission keinen Augenblick vergessen.«
    Er ließ Besen und Kehrschaufel fallen, sank langsam auf den Boden und presste die Hände auf die Schläfen.
    »Ich weiß, wie weh dir das tut, wie schwer es dir fällt, aber wer, wenn nicht du? Du willst sagen, sie tun dir leid?«
    »Ja. Sie tun mir leid, und ich habe Angst. Leid tun mir diejenigen, die ich nicht retten kann. Und ich habe Angst, weilich allein bin, und sie sind so viele, und weil ich wieder in ihre Welt gehen und nach ihren Gesetzen leben muss.«
    »Du lebst nicht nach ihren Gesetzen. Du bist ein Aufklärer in Feindesland.«
    Die Mikrowelle klingelte. Er hörte es nicht. Das Flüstern erfüllte die ganze Küche, und in seinem Kopf war für nichts anderes mehr Platz.
    »Sie sind Opfer der Apokalypse. Es sind Kinder. Du rettest Kinder. Wie in deinem Lieblingsbuch, Salingers ›Der Fänger im Roggen‹, erinnerst du dich? Du bist allein,

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