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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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drehte sich abrupt zu Solowjow um. »Ist ihr etwas passiert?«
    »Ja. Sie wurde heute Nacht im Wald an der Pjatnizkoje-Chaussee gefunden, zwanzig Kilometer entfernt vom Stadtring. Ich weiß, wie wenig Worte in dieser Situation bedeuten, aber nehmen Sie trotzdem mein Beileid entgegen.«
    »Was soll das heißen – sie wurde gefunden?« Der Sänger schüttelte nervös den Kopf. »Was reden Sie da?«
    »Sie wurde getötet«, sagte Solowjow und schaute in die von Schlaflosigkeit geröteten, zornig hervorquellenden, beinahe irren Augen des Sängers.
    »Wer? Shenja? Getötet? Gefunden?« Er griff nach der Serviette, warf sie wieder hin, zuckte mit dem Arm und warf eine Weinflasche um. Ein Kellner eilte herbei, mit ihm der schnaufende, schweißnasse Produzent.
    »Mischa!«, rief der Sänger. »Mischa, er sagt, meine Shenja wurde ermordet!«
    Der Dicke plumpste auf einen Stuhl, warf einen schiefen Blick auf Solowjow und murmelte heiser: »Ich hatte ihn gebeten zu warten. Du musst erst dein Konzert durchstehen.«
    Der Kellner tupfte hastig die Flecken von der Tischdecke und lief weg. Solowjow zündete sich eine Zigarette an und wandte sich an den Sänger: »Valeri, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir müssen den Mörder finden. Jede Stunde zählt. Wann haben Sie Shenja das letzte Mal gesehen?«
    »Nein, warten Sie, wissen Sie genau, dass es wirklich meine Shenja ist? Vielleicht eine Verwechslung?«, murmelte Katschalow.
    Er sackte in sich zusammen, das Blut wich aus seinem Gesicht. Er wurde so bleich, dass Solowjow fürchtete, er würde gleich das Bewusstsein verlieren.
    »Ihre Mutter hat sie erkannt. Sie sagt, Shenja sei am Abend zuvor bei Ihnen gewesen. Wann ist Sie von Ihnen weggefahren?«
    »Bei mir? Wir haben uns das letzte Mal an ihrem Geburtstag gesehen, vor einer Woche. Wir waren in der Stadt, in einem Restaurant, ich habe ihr einen Anhänger mit einem Saphir geschenkt.« Er schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern bebten, Solowjow hörte ihn dumpf schluchzen.
    »Ich hatte Sie doch gewarnt, verdammt!«, zischte der Produzent. »Was haben Sie da angerichtet? Warum haben Sie es ihm gesagt? Das ist ungeheuerlich. Sehen Sie, in welchem Zustand er jetzt ist? Alles Ihretwegen!«
    Das Handy des Produzenten klingelte. Er stand polternd auf und ging ein Stück weg. Solowjow hörte ihn leise und nervös fluchen. Das Gespräch drehte sich um das Konzert, das womöglich ausfallen müsste, und dann sei alles im Arsch usw.
    Der Sänger nahm die Hände vom Gesicht. Solowjow goss ein Glas Wasser ein und reichte es ihm. Katschalow leerte esin einem Zug, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte mehrmals gierig und drückte die Zigarette aus. Tränen rannen ihm aus den Augen. Er wischte sie mit einer Serviette ab.
    »Gut. Alles in Ordnung. Ich weiß, das ist Ihr Job. Aber lassen Sie uns nicht hier reden. Gehen wir zu mir. Ich wohne gleich um die Ecke, zehn Minuten zu Fuß.«
    Als der Dicke sie aufbrechen sah, murmelte er ins Telefon: »Okay, ich rufe zurück!« und rannte hinterher.
    »Wo willst du hin, verfluchte Scheiße! Denk an deine anderen Kinder, wer soll die ernähren, wenn sie dich auspusten? Und das werden sie, jede Wette, wenn du diese seriösen Leute hängenlässt, dann pusten sie dich aus!«
     
    Das Mädchen hieß Sonja. Sie war aus der Sklifossowski-Unfallklinik hergebracht worden. Sie saß auf der Stuhlkante und blickte zu Boden. Achtzehn Jahre alt, klein und dick. Ein Piercingloch in der Nase. Rote Flecke auf der blassen Haut, alte Narben, frischer Schorf – Spuren des erbitterten Kampfes gegen Pickel, Zeugnisse von Einsamkeit, Depression und Selbsthass. Ansonsten ein ganz normales Mädchen. Nicht drogensüchtig, nicht hysterisch. Wenn sie ein bisschen abnähme und ihr Gesicht in Ruhe ließe, wäre bald alles in Ordnung. Aber dafür brauchte sie Hilfe. Nicht von Ärzten, sondern von ihrer Mutter. Sie war noch ein Kind, und ihre Kindheit zog sich hin, weil es darin an Liebe gemangelt hatte. Sie konnte den Stress des Erwachsenwerdens noch nicht bewältigen, sie hatte unbewusst Angst vor der Erwachsenenwelt, weil ihr das Hinterland fehlte – eine glückliche Kindheit.
    Die Schwestern auf der Intensivstation nannten solche Mädchen »Selbstaufschlitzerinnen« und konnten sie nicht leiden. Venen zu vernähen war schwierig und kompliziert. Sonja hatte selbst den Krankenwagen gerufen, aus Angst, sie könnte tatsächlich sterben. Das wollte sie ja gar nicht. Sie wollte Aufmerksamkeit, nicht nur von dem

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