In ewiger Nacht
sagte er zu Doktor Filippowa, »die römischen Kaiser waren keine Dummköpfe, wenn sie jeden Morgen auf nüchternen Magen eine Portion frisches, mit Muttermilch vermischtes Kinderblut zu sich nahmen.«
Olga musste ihm zuhören. Sie hatte diese Arbeit selbst gewählt. Guschtschenko riet jedem, gut zu überlegen, bevor erzusagte. Der Kinderschänder K. bot ergiebiges Forschungsmaterial. Olga nahm seine Monologe mit einem Diktiergerät auf. Da er während der Tatrekonstruktion am gesprächigsten war, begleitete sie die Ermittler dabei und war ständig in der Nähe des Ungeheuers.
K. machte im Umkreis von Moskau Jagd auf Kinder, in einem Radius von sechzig Kilometern Entfernung vom Stadtring. Er wählte meist Dörfer und arme städtische Siedlungen, wo Flüchtlingsfamilien lebten und die Kinder ohne Aufsicht waren. Er handelte vorsichtig und mit Bedacht, wählte den Tatort vorher sorgfältig aus und übersah keine Kleinigkeit. Die Vergewaltigungen und Morde beging er im Wald. Nie tauchte er an einem Ort ein zweites Mal auf.
Während der ersten Tatrekonstruktion bemerkte Olga, dass das Ungeheuer, mit Handschellen an einen Kriminalisten gekettet, die freie Hand auf dem Hosenschlitz hatte und masturbierte. Eine ganze Weile beherrschte sie sich, dann rannte sie ins Gebüsch und erbrach sich.
»Das passiert, halb so schlimm«, tröstete sie der alte Gerichtsmediziner, klopfte ihr auf die Schulter und reichte ihr eine Packung Erfrischungstücher und eine Flasche Wasser.
Bis heute Morgen war Olga sich sicher gewesen, dass sie nie wieder zu diesem Alptraum zurückkehren würde. Sie hatte die Gerichtspsychiatrie verlassen – endgültig, wie sie glaubte.
Du versteckst die Leichen nicht, stellst sie aber auch nicht offen aus. Du lädst sie ab, wo es für dich am bequemsten ist. Dir geht es nicht um Schmerzen, nicht einmal um eine Vereinigung. Du brauchst das Ritual und den engen Kontakt zum Opfer im Augenblick des Todes. Du betäubst das Opfer mit einem Schlag auf den Hinterkopf, ziehst es aus, erwürgst es, schneidest ihm als Souvenir eine Haarsträhne ab, dann begießt du es mit Babyöl und berührst den Körper nicht mehr. Du hinterlässt keine Spuren, weder auf der Kleidung der Opfer noch auf ihrer Haut. Du tötest mitten in der Nacht, im Wald, im Dunkeln. Ich bin fast sicher, dass du ein Nachtsichtgerätbesitzt. Der Lichtschein einer Taschenlampe im Wald könnte von der Landstraße aus bemerkt werden. Das Einzige, was du dir erlaubst, ist, Sträucher niederzutrampeln und Baumstämme mit Fußtritten zu traktieren. Ein paar Minuten wilder Raserei. Was ist das? Wut? Freude? Ein Ablassen der überschüssigen Energie, die der Mord in dir erzeugt hat? Oder ein Anfall von Verzweiflung, weil du deinen Durst nicht stillen kannst und es wieder tust? Zum wievielten Mal? Du hast schon früher getötet. Du hast die Grenze vor langer Zeit überschritten, vor vielen Jahren. Es hat ein erstes Opfer gegeben, ein Mädchen in deinem Alter oder jünger. Sie hat dich zum ersten Mal deine schreckliche männliche Unzulänglichkeit spüren lassen. Wahrscheinlich hat sie dich ausgelacht, und das hast du nicht ertragen. Dann hast du einen Beruf erlernt, gearbeitet, warst äußerlich ruhig und erfolgreich. Aber du bist ein grenzenlos einsamer Mensch geblieben, so einsam, dass du dir ein zweites Ich geschaffen hast. Du existierst in zwei Gestalten, lebst zwei Leben.
»He, Filippowa, was ist los mit dir?«
Auf dem Treppenabsatz stand Olgas ehemalige Kommilitonin Lida Pjatakowa. Sie hatte Olga vor anderthalb Jahren überredet, aus der Gerichtspsychiatrie an diese Klinik zu wechseln.
Lida leitete die Frauenstation, praktizierte nebenbei privat und verdiente damit sehr gut. Sie betrachtete die Stelle in der Klinik nur als notwendiges Statusattribut und rieb sich damit nicht auf – bei der miserablen Bezahlung!
In ihrer Jugend war sie eine mollige stille Brünette aus der Saratower Provinz gewesen, nun war sie eine sehnige, laute Blondine, Moskauerin, Besitzerin einer Zweizimmerwohnung im Zentrum. Sie hatte im Laufe von zwanzig Jahren fünf Ehemänner gehabt, kein einziges Kind geboren und behauptete, vollkommen glücklich zu sein.
»Alles in Ordnung mit dir?« Sie maß Olga mit einem strengen Blick. »Du wirkst irgendwie angeschlagen. Hör mal,ich hab hier ein Mädchen nach einem Suizidversuch, die saugt enorm Energie, einfach schrecklich. Ich kann nicht mit ihr reden, ich hab gerade Null Widerstand. Aber du bist ja neutral, dir macht das nichts
Weitere Kostenlose Bücher