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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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jungen Mann, der ihr so sehr gefiel, sondern auch von ihren Eltern. Sieflehte Olga an, die Sache nicht ihrem Institut zu melden, und wollte ihre Mutter nicht sehen.
    »Warum nicht?«, fragte Olga.
    »Sie wird mit mir schimpfen«, flüsterte das Mädchen und zog den Kopf zwischen die Schultern.
    Ihre Mutter, noch sehr jung, straff und gepflegt, saß im Flur und sagte immer wieder: »Warum? Warum tut sie mir das an?«
    Der Stress hatte sie nicht daran gehindert, sich Augen und Lippen zu schminken, das Gesicht zu pudern und sich zu parfümieren.
    »Nicht Ihnen, sondern sich«, sagte Olga und setzte sich neben sie.
    »Was?«
    »Sonja hat nicht Ihnen die Pulsadern aufgeschnitten, sondern sich.«
    Die Mutter entlud sich in einem Monolog, was für eine gute, selbstlose Mutter sie sei, ihr ganzes Leben opfere sie der Tochter, aber die wisse das nicht zu schätzen und wolle sich wegen irgendeines Jungen das Leben nehmen.
    »Sie ist so anders, ganz anders als ich in ihrem Alter. Sie kennt nur ihre Leidenschaften, ihre augenblicklichen Wünsche. Sie leidet, weil sie zu dick ist, und hungert tagsüber, und nachts macht sie sich über den Kühlschrank her. Sie kann sich einfach nicht beherrschen. Ich mühe mich ab, arbeite Tag und Nacht, damit es dem Kind an nichts fehlt. Wissen Sie, was die angeblich kostenlose Hochschulbildung kostet? Und anständige Kleidung, Auslandsreisen? Seit ihrem zwölften Lebensjahr fährt sie jedes Jahr nach England, spricht aber noch immer nicht Englisch. Nein, das sind keine Komplexe, das ist Faulheit und Schlamperei. Sie ist wie von einem anderen Stern, ich verstehe meine Tochter nicht«, erklärte die Mutter, wobei sie ein Papiertaschentuch zerknüllte.
    »Sie versuchen gar nicht, sie zu verstehen. Sie sagen nur: Ich bin gut, und sie ist schlecht! Als Kind hat sie versucht,Ihre Liebe zu gewinnen. Sie spürte, dass sie so sein sollte wie Sie, sie versuchte, Ihnen in allem nachzueifern, und hat dabei gnadenlos ihr eigenes Ich gebrochen. Und nun sind davon nur noch stechende, schmerzende Trümmer übrig. Sie ist nicht von einem anderen Stern. Sie sprechen beide dieselbe Sprache, aber Ihre Kommunikation ist eher ein Monolog. Machen Sie einen Dialog daraus. Üben Sie keinen Druck auf das Kind aus, versuchen Sie ihr zuzuhören und sie zu verstehen. Sagen Sie ihr öfter mal etwas Nettes – ist denn das so schwer? Sonja fehlt es einfach an Liebe.«
    Wem nicht, dachte Olga, während sie die Treppe hinunterlief. Na, die beiden habe ich wohl miteinander versöhnt. Die Barriere zwischen ihnen ist noch nicht ganz gefallen, aber sie hat einen Riss bekommen. Ich habe Sonja auf meine Verantwortung nach Hause entlassen. Wenigstens etwas Gutes habe ich also heute getan. Ich werde nicht mehr an Moloch denken. Ich kann und will das nicht mehr. Wenn ich an ihn denke, sinke ich in bedrückende Finsternis, in ewige Nacht, als würde ich mit jedem seiner Opfer sterben. Wie viele waren es? Bestimmt nicht nur vier. Mindestens zehn. Es gibt noch ungelöste Fälle, vielleicht wurde jemand anders an seiner Stelle verurteilt und hingerichtet oder hat sich in seiner Zelle umgebracht, wie Anatoli Pjanych, der Würger von Dawydowo.
    Pjanych war der erste Serienmörder, mit dem Olga am Institut für Gerichtsmedizin zu tun gehabt hatte; das war 1986. Er hatte von 1983 bis 1986 in Dawydowo gemordet, einem Vorort von Moskau. Fünf Tote hatte er auf dem Gewissen. Kinder zwischen sieben und zwölf, vier Mädchen und einen Jungen aus einem Heim für Blinde und Sehbehinderte.
    Vor zwei Jahren, beim Fall Moloch, hatte Olga wieder an Pjanych denken müssen. Molochs Handschrift ähnelte der des Würgers von Dawydowo: Erwürgen, Blutergüsse am Hinterkopf, abgeschnittene Haare.
    Der Mörder betäubte seine Opfer, zog sie aus und erwürgte sie. Schnitt ihnen Haare ab. Übergoss sie allerdingsnicht mit Babyöl, sondern warf sie in den See. Erst Wasser, später Öl.
    »Hör auf zu phantasieren!«, sagte Guschtschenko. »Der Fall Pjanych ist absolut klar.«
    Ja, es war tatsächlich alles klar gewesen. Erdrückende Indizien. Ein Geständnis. Selbstmord in der Zelle, vor der Gerichtsverhandlung. Besser gesagt, Mord. Denn Pjanych in einer Gemeinschaftszelle unterzubringen war Mord. Was, wenn das Gericht nach genauer Betrachtung aller Indizien zu dem Schluss gekommen wäre, dass sie für einen Schuldbeweis nicht ausreichten? Aber es kam gar nicht zur Verhandlung. Und sämtliche Materialien zum Fall waren aus den Archiven verschwunden.
    Das Telefon

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