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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Und ihn, den Schlechten, liebte Olgas Mutter, den Vater, einen guten Menschen, dagegen nicht.
    Als Olga schon Medizin studierte und ihr Praktikum in der Klinik machte, in der ihre Mutter arbeitete, erzählte eine OP-Schwester die ganze Geschichte. Olga glaubte ihr nicht, hielt das alles für ein Gerücht.
    Vor drei Jahren war der Chirurg gestorben. Olgas Mutter hatte schrecklich geweint und war schlagartig in sich zusammengesunken und gealtert. Der Vater war überzeugt, sie weine um den Kollegen, mit dem sie so viele Jahre eng zusammengearbeitet hatte, Seite an Seite am OP-Tisch, bedauerte sie sehr und begleitete sie auf die Beerdigung und zur Totenfeier.
    Nun waren die beiden ein ideales Paar, zwei alte Leute, die fast zu einem Organismus geworden waren. Wenn der Mutterdie Beine weh taten, humpelte der Vater, wenn der Blutdruck des Vaters stieg, verspürte die Mutter ein Pochen in den Schläfen. Die früheren Leidenschaften und Lügen spielten längst keine Rolle mehr.
    Olga hätte damals, mit zwanzig, die Worte ihrer Mutter nicht ganz so ernst nehmen, sie nicht als Wahrheit in letzter Instanz betrachten und ihr eigenes Leben nicht nach der sinnlosen, scheinheiligen Formel »an erster Stelle kommt die Pflicht« ausrichten sollen. Nun konnte sie nur sich selbst die Schuld geben.
     
    Der alte Lehrer lief unruhig durch die Wohnung, trank kaltes Wasser aus dem Teekessel, versuchte zu lesen, aber die Zeilen verschwammen vor seinen Augen.
    In den vielen Jahren als Lehrer hatte er wahrlich schon schwierige, ja schlimme Kinder gehabt. Diebe, Drogensüchtige, Prostituierte, Denunzianten, üble Gauner. Er war damit fertig geworden, hatte in Gedanken Puschkin und Tjutschew rezitiert, hatte Hilfe gesucht bei Tolstoi und Dostojewski. Aber nun?
    Sie haben sich geirrt, klar? Und lassen Sie mich endlich in Ruhe! Alter Kinderschänder!
    Rodezki schaltete den Computer an und suchte nach der Kinderporno-Werbung. Er ging auf die Website von Moloch, doch da standen nur dessen Texte. Er fuhr mit der Maus über verschiedene Zeichen, drückte Tasten – nichts. Beim ersten Mal war er zufällig auf die Filmszenen gestoßen, nun fand er sie nicht wieder.
    Jetzt war er beinahe sicher, dass er sich geirrt und Shenja Katschalowa furchtbar unrecht getan hatte. Sie hatte recht gehabt mit ihrer wütenden Attacke. Wie hatte ihm das passieren können, ihm als erfahrenem Pädagogen, einem Kenner der kindlichen Psyche?
    Im Herbst war Shenja zusammen mit anderen Kindern mehrmals zu Nachhilfestunden bei ihm zu Hause gewesen. Ein ganz normales Mädchen, vielleicht ein bisschen zu kleinund zu dünn für ihr Alter. Und sehr hübsch, wie ein Weihnachtsengel auf alten Postkarten. Selbst die albernen Rasta-Zöpfchen standen ihr.
    Als Rodezki im September eine neue achte Klasse übernommen hatte, prüfte er den Wissensstand der Schüler nach seinem eigenen dreifachen System: Diktat, Nacherzählung, Aufsatz. Den Schwächsten erteilte er Nachhilfeunterricht bei sich zu Hause. Früher, zu Sowjetzeiten, hatte er dafür kein Geld genommen, jetzt war er darauf angewiesen, denn sein Lehrergehalt reichte nur knapp zum Leben. Außerdem ließen sich alle Kollegen Nachhilfestunden bezahlen; die Schule galt als elitär, und die Eltern der Schüler waren zahlungskräftig.
    »Wissen Sie, wer mein Vater ist?«, hatte Shenja Katschalowa ihn in der ersten Stunde gefragt.
    Rodezki wusste es, die Kolleginnen hatten ihn aufgeklärt. Das arme Mädchen setzte einen hochmütigen Blick auf und schob die Unterlippe vor, wenn es von seinem Vater sprach. Genau diesen Gesichtsausdruck hatte Shenja auch bei ihrer letzten Begegnung gehabt.
    Sie wissen ja, wer mein Vater ist. Er macht Sie fertig.
    Am meisten fürchtete Rodezki sich davor, Shenja am Montag in der Schule wiederzusehen.
    Aber sie kam nicht.
     
    Bevor Mark untergetaucht war, hatte er sicherheitshalber seine Website aufgeräumt, alle Bilder gelöscht und nur die Texte übriggelassen. Er war in letzter Zeit leichtsinnig geworden, hatte Fotos und Videoclips eingebunden, auf denen die Gesichter der Mädchen und Jungen deutlich zu erkennen waren. Natürlich war eine solche Werbung effektiver, aber auch die Gefahr wuchs damit um ein Vielfaches. Wer weiß, vielleicht wurde er ja deswegen verfolgt.
    Als er eine seiner angemieteten Wohnungen verließ, nahm er weder Papiere noch Mobiltelefon mit. Auf einem Kleidermarkt in der Nähe der Metrostation kaufte er sich ein billigesFlanellhemd, eine gefütterte Jeansjacke, eine alberne

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