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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie auch zu der Firma begleiten müssen, weil die Bilder die Farbnuancen und die Körnigkeit des Materials nicht richtig wiedergaben. Nun waren die Fliesen ein Problem, und Nikolai wusste, dass er sich nicht drücken konnte.
    Als er an der Moskwa entlangfuhr, am Kulturpark vorbei, dachte er daran, dass er im Mai zwei Jahre mit Shenja zusammen gewesen wäre, und versank wieder in seinen Erinnerungen.
     
    Das Mädchen kommt ihm auf Skates entgegengerast, und er fängt es auf. Die Parkeisenbahn fährt dröhnend vorbei. Er hält das Mädchen in den Armen. Zum ersten Mal widerfährt ihm so etwas in Wirklichkeit. Zugleich ist es wie eine Halluzination, ein Anflug von Fieberwahn. Das Mädchen hält ihn für einen Ausländer, spricht mit ihm Englisch. Ein Geschenk des Schicksals, ein magisches Zeichen. Genau, er ist Ausländer, beherrscht nur ein knappes Dutzend russische Wörter.
    Zu sich gekommen, löste er die Umarmung und fragte sie auf Englisch, ob alles in Ordnung sei und sie sich den Fuß verstaucht hätte. Ja, das hatte sie wohl, es tat ein bisschen weh. Sie sprach gut Englisch, ging bestimmt in eine Spezialschule.
    Er half ihr zur nächsten Bank, zog ihr den schweren Plastikschuh aus, tastete den zierlichen Knöchel ab, streichelte und drückte den schmalen Fuß in der ulkigen gestreiften Zehensocke. Sie verzog das Gesicht und stöhnte.
    Er fürchtete, dass plötzlich ein Erwachsener auftauchte, die Mutter oder der Vater, und alles zu Ende war. Ein kurzes Dankeschön, und er würde dieses Wunder nie wiedersehen. Doch das Wunder zerstreute seine Sorgen.
    »Ich bin mit Freunden gekommen, aber wir haben uns gestritten. Sie wollten ins Kino, irgendein Quatsch mit Außerirdischen. Ich laufe gern allein. Aber heute ist nicht mein Tag. Ich bin heute Nacht zu lange in der Disko rumgehopst, jetzt tun mir sämtliche Muskeln weh, ich kann mich nicht mal richtig bücken.«
    Auf ihrem Rücken baumelte ein Rucksack, darin lagen Turnschuhe. Sazepa hockte sich hin und zog ihr die Schuhe an wie einem Kleinkind. Sie hatte nichts dagegen, schaute auf ihn herab und lächelte ihr rätselhaftes, schwindelerregendes Lächeln.
    »Nach einer so anstrengenden Nacht muss man sich stärken, damit man wieder zu Kräften kommt«, sagte Sazepa. »Ich wollte gerade essen gehen. Leistest du mir Gesellschaft?Ich bin zum ersten Mal in Moskau und kenne kein anständiges Restaurant hier in der Nähe.«
    Was rede ich da? Sie ist ein Kind, was versteht sie schon von Restaurants, dachte er.
    Das Lächeln auf ihrem Gesicht erlosch. Das Mädchen zog die Brauen zusammen und biss sich auf die Oberlippe.
    Aus, Ende! Gleich sagt sie: nein danke. Das würde jedes normale Mädchen an ihrer Stelle tun. Welches Kind schließt schon auf der Straße Bekanntschaft mit einem erwachsenen Mann? Oder bin ich für sie kein Mann mehr? Ein Opa, noch dazu Ausländer. In Russland hat man ja ein besonderes Verhältnis zu Ausländern, das kommt noch aus der Sowjetzeit, als es nur wenige Ausländer gab; Vertreter einer anderen, freien, verlockenden Welt … Kaugummi, Jeans … Nein, das ist lange vorbei, eine neue Generation, Demokratie … Der Fieberwahn hielt an, seine Gedanken hüpften wild durcheinander. Er hatte offenbar sogar erhöhte Temperatur, ihm war abwechselnd kalt und heiß.
    »Ich kenne ein Lokal, das ist nicht übel«, sagte das Mädchen nach einer für ihn qualvollen Pause. »Da war ich mal mit meinem Papa. Wissen Sie, wer mein Papa ist? Ein bekannter Sänger. Wenn Sie hier mal den Fernseher anmachen, den Musiksender, dann sehen Sie ihn auf jeden Fall. Er ist so was wie bei euch Celentano, er hat auch schon in Filmen mitgespielt. Sie wollen also mit mir in ein Restaurant gehen? Gern. Aber ich habe kein Geld.«
    Er strich ihr übers Haar.
    »Wirklich? Schade, ich dachte, ich werde heute mal von einer netten kleinen Moskauerin eingeladen.«
    Ja, an jenem Tag war alles irreal gewesen. Die Kleine hatte über seinen unbeholfenen Scherz gelacht und seine Einladung zum Essen ohne Zögern angenommen. Diese Leichtigkeit hatte ihn nicht stutzig gemacht, sondern im Gegenteil ein romantisches Beben ausgelöst. Die Kleine war rein und vertrauensselig. Wie hätte Sazepa, trunken vor Glück, ahnen können,dass dieses Kind zynisch und erfahren war wie eine mit allen Wassern gewaschene Nutte?
    Zu lange und zu quälend war das Warten gewesen, als dass er noch einen Funken Verstand hätte bewahren können, als sie endlich vor ihm stand. Sein Mädchen. Klein, zierlich, hilflos.

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