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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Fernsehleute verstanden sich aufs Überreden. Aber das war es nicht. Olga wusste bereits, dass sie keine Ruhe finden würde, bis Moloch gefasst war. Der Fernsehaufritt war der erste Schritt. Der zweite war der Karussellfahrer, ihn konnte man in der Sendung nächste Woche zeigen. Der dritte Schritt war Dawydowo. Sie hatte schon lange dorthin fahren wollen. Niemand außer ihr sah Parallelen zwischen Moloch und dem Würger von Dawydowo. Sie hatte es satt, sich anzuhören, dass sie phantasiere. In Guschtschenkos Team hatte jeder alles, was er tat und dachte, jede Idee und Hypothese, im Kollektiv besprechen müssen. Ohne Guschtschenkos Einverständnis hatte sie nicht in den Moskauer Vorort fahren können. Und Guschtschenko hielt ihren Gedanken, dass sich die Handschriften ähnelten und dass nicht Pjanych die blinden Waisen getötet hatte, für absolut hirnrissig.
    Das Telefon klingelte erneut, als Olga die Treppe zu ihrer Station hochstieg.
    »Was ist mit deiner Stimme?«, fragte ihre Mutter.
    »Nichts, alles in Ordnung.«
    »Glaub ich nicht. Ich habe heute früh deinen Solowjow im Fernsehen gesehen. Er hat jetzt ganz graue Haare. Ich hoffe, du willst dich nicht einschalten?«
    »Wo, Mama?«
    »Tu nicht so. Du weißt genau, wovon ich rede. Untersteh dich, Olga! Hörst du?«
    »Mama, du siehst dir doch nie den Kriminalreport an.«
    »Papa und ich waren beim Frühstück und wollten den Wetterbericht sehen, dabei sind wir zufällig auf den Kriminalreport gestoßen.«
    »Hallo, meine Tochter!«, trompetete ihr Vater in den zweiten Hörer. »Ich stimme Mama vollkommen zu. Du darfst dich nicht mehr mit diesen schrecklichen Dingen befassen. Du hast Familie, denk mal an uns und an Katja und Andrej, du hast einfach nicht das Recht dazu!«
    »Ich weiß gar nicht, warum ihr so über mich herfallt«, unterbrach ihn Olga. »Bis jetzt hat mich noch niemand um meine Mitarbeit bei den Ermittlungen gebeten.«
    »Was denn, auch Solowjow hat nicht angerufen?«, fragte ihr Vater erstaunt.
    »Nein.«
    »Merkwürdig. Übrigens, ist er eigentlich noch immer unverheiratet?«, erkundigte sich die Mutter betont gleichgültig.
    »Keine Ahnung.«
    Das Gespräch mit ihren Eltern hatte sie gewärmt und erheitert. Es gefiel ihr, dass die beiden im Alter unzertrennlich waren wie siamesische Zwillinge. Als Kind und als Teenager hatte sie schreckliche Angst gehabt, sie könnten sich trennen.
    Ihre Mutter war schön, ihr Vater das ganze Gegenteil. Herausgekommen war Olga, etwas dazwischen. Jemand, der über ein gespanntes Seil lief, wenn man ebenso gut auf festem Boden gehen konnte. Wohlmeinende behaupteten, Olga sähe ihrer Mutter ähnlich, Unfreundliche meinten, sie sei ganz der Vater.
    Von der Mutter hatte sie das Haar, dick und glatt, nicht direkt rot, eher wie Buchweizenhonig, vom Vater die weiße, sonnenempfindliche Haut, die hohe, gewölbte Stirn und das kleine runde Kinn. Die Augen waren nur von der Form her die der Mutter, groß und länglich. Die schweren Lider ließen ihren Blick ein wenig verschlafen und hochmütig wirken. Aber die Augenfarbe war nicht die ihrer Mutter, blau, sondern die unbestimmte ihres Vaters – um die Pupille herum hell, grüngold, und am Rand schwarz. Die Brauen hatte sie leider vom Vater – weißblond und formlos. Sie musste sie auszupfen und tuschen. Dafür hatte sie die zierliche, wohlproportionierteFigur ihrer Mutter und deren schlanke Taille. Besonders dankbar war Olga der Mutter für ihre Haltung. Die rührte allerdings nicht von den Genen her, sondern von den ständigen Klapse auf den Rücken und der Aufforderung: »Halt dich gerade, Olga!«
    Die Mutter küsste den Vater jeden Morgen auf die Glatze und sagte: »Ich liebe dich.« Die Glatze des Vaters war immer weiter gewachsen, bis sie den ganzen Kopf einnahm. Der Vater sagte gern, seine Oase sei zur Wüste geworden. Er scherzte ständig, und die Mutter lachte darüber. Olga zuckte zusammen wie von einem Stromschlag.
    In Wirklichkeit hatte Mama viele Jahre einen anderen Mann geliebt, einen Arbeitskollegen. Er war Chirurg, sie Narkoseärztin. Mit ihm verband die Mutter echte Leidenschaft, mit dem Vater dagegen Verantwortungs- und Pflichtgefühl und die unbewusste Angst vor der Einsamkeit.
    Der Chirurg hatte eine Frau und zwei Kinder und nicht die Absicht, seine Familie zu verlassen. Außerdem hatte er nicht nur mit Olgas Mutter eine Affäre, sondern auch mit anderen Frauen, Ärztinnen und Krankenschwestern. Er war ein genialer Chirurg, aber ein schlechter Mensch.

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