In ewiger Nacht
extrem vorsichtig, dass es schon an Paranoia grenzte. Sie bestanden auf einer einseitigen Verbindung; sie riefen Mark von öffentlichen Telefonzellen aus an und zahlten jede beliebige Summe. Mit den Kindern trafen sie sich nur auf ihrem eigenen Terrain, in eigens dafür angemieteten Wohnungen, fremden Sommerhäusern oder privaten Hotels. Aber so waren die wenigsten. Die meisten benutzten für den Kontakt Handys oder sogar ihre Diensttelefone.
Mark stockte jedesmal der Atem, wenn er die Identität eines weiteren Liebhabers kleiner Jungen oder Mädchen enthüllt hatte. FSB- und Miliz-Generale, Abgeordnete, hohe Staatsbeamte, Männer, die in politischen Talkshows auftraten und öffentlich den Verfall der Sitten beklagten und den kompromisslosen Kampf gegen Schmutz und Pornographie predigten.
Für Mark waren Informationen die wichtigste Währung. Er wollte niemanden erpressen, nein, er war kein Selbstmörder. Aber irgendwann einmal, wenn er die Nase voll hatte von diesem gefährlichen Geschäft, hoffte er, seine Sammlung günstig zu verkaufen und vom Erlös bis ans Ende lebenzu können. Dass er einen großzügigen Abnehmer für das gesamte Paket finden würde, war keine Frage.
Die meisten Filme bewahrte er bei sich zu Hause auf. Sie unterschieden sich keinen Deut von den Hunderten anderer Kassetten und standen auch nicht gesondert, sondern wahllos zwischen all den anderen. Sie waren nicht beschriftet, nur mit Chiffre-Nummern versehen. Kassetten, die Kunden mit den Kindern zeigten, waren mit einem kleinen schwarzen Sternchen markiert. Vor einigen Monaten hatte er angefangen, die Filme auf DVDs zu überspielen, die er dann in einem Bankschließfach deponierte.
Davon wusste niemand außer ihm. Den Kindern predigte er immer wieder, Erpressung sei Selbstmord, sie sollten es gar nicht erst versuchen.
»Wer?«, flüsterte er ins Kissen. »Ika? Ausgeschlossen. Sie ist nicht mehr minderjährig. Sie ist zweiundzwanzig, auch wenn sie aussieht wie vierzehn. Außerdem ist sie mir treu ergeben, wie ein Hündchen, sie würde mich nie in die Pfanne hauen. Stas? Zu träge und außerdem feige. Rennt bei jeder Kleinigkeit gleich zu seiner Mama. Jegorka? Zu blöd. Leicht schwachsinnig, glaub ich. Darum ist er so sexy, könnte rund um die Uhr vögeln. Shenja? Ja, die ist zu allem fähig. Hat gewaltige, ganz unkindliche Ambitionen. Sie ist verrückt, unberechenbar und verschlossen. Die Klügste und Geldgierigste der vier. Treibt sich in Nachtklubs rum, hat mit wer weiß wem Kontakt. Und bestimmt noch ein heimliches Nebengeschäft und ihre eigenen Einkunftsquellen. Sie kassiert garantiert bei irgendwem ab, schon lange und nicht zu knapp. Angenommen, dieser Jemand kann nicht mehr zahlen, oder ihre Forderungen sind ausgeufert und sie versucht es mit einer kleinen Erpressung. Hat ihm erzählt, es sei alles auf Video, und die Kassetten lägen bei mir, sie wisse bloß nicht, wo genau.
So mutmaßte Mark ins Blaue hinein – es gab viele Möglichkeiten, ganz unterschiedliche und überraschende. Und vor allem wusste er noch immer nicht, was er tun sollte.
Zehntes Kapitel
Soja Sazepa brauchte dringend den Rat ihres Mannes wegen der Fliesen für das Badezimmer im Sommerhaus. Sie erwartete Nikolai in einem Café in der Nähe eines exklusiven Sanitärgeschäfts auf dem Lenin-Prospekt. Sie war aufgedreht, am Telefon hatte ihre Stimme einen metallischen Klang gehabt. Der Bau des Sommerhauses war in den letzten zwei Jahren zu ihrem wichtigsten Daseinszweck geworden. Das hatte Sazepa erlaubt, sein eigenes Leben zu führen, das geheim und gefährlich war, von dem er aber immer geträumt hatte.
Soja hielt sich für eine verkannte große Designerin. Um den gesamten Innenausbau des Hauses kümmerte sie sich selbst. Sie fuhr mit ihrem weißen Honda auf Baumärkte, beaufsichtigte die Handwerker, stritt und versöhnte sich mit dem Bauleiter, hielt akribisch sämtliche Ausgaben fest, besichtigte die Sommerhäuser und Villen ihrer wohlhabenden Bekannten, betastete Wände und klopfte Fußböden ab. An ihren Mann wandte sie sich nur in zwei Fällen – wenn das Geld alle oder wenn eine Etappe beendet war. Im ersten Fall erwartete sie von ihm nur Scheine. Im zweiten – Begeisterung.
Doch manchmal brauchte sie darüber hinaus dringend die Hilfe ihres Mannes. Wie zum Beispiel vor einiger Zeit bei den Steinen für die Außenfassade. Sie hatte sich nicht für den richtigen Farbton entscheiden können, und Nikolai hatte sich nicht nur Katalogbilder ansehen, sondern
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