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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Jeder Humbert trifft eines Tages seine Lolita.
    Humpelnd und auf seinen Arm gestützt, führte sie Sazepa aus dem Park. Der Rucksack mit ihren Skates baumelte auf ihrem Rücken.
    »Ich heiße übrigens Shenja.«
    »Nicolo«, stellte er sich vor. Nun hatte sein zweites Ich endlich einen Namen.
    Professor Nicolo Castroni lebte in Rom, lehrte an der Universität antike Geschichte und war zum ersten Mal in Moskau, als Gast einer wissenschaftlichen Konferenz. Sie fragte natürlich nicht weiter nach, nickte nur gleichmütig und erklärte, sie träume schon lange von einer Italienreise, vorigen Sommer sei sie in England gewesen, um Englisch zu lernen. Dort habe es ständig geregnet, es sei furchtbar langweilig gewesen und das Essen grässlich. Jeden Tag Cornflakes mit bläulicher Milch zum Frühstück.
    Im Restaurant entschied sie sich für Kaviar und Hummer in Basilikumsoße, die teuersten Gerichte auf der Karte. Signor Castroni war gerührt von der Unbefangenheit der kleinen Signorina. Er selbst konnte nichts essen, er schaute sie an und schmolz dahin vor Glück.
     
    »Nikolai, endlich! Ich mache mir schon Sorgen!« Soja kam aus dem Halbdunkel des Raumes auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. »Hu, du bist ja ganz stachlig.«
    Er hatte es also geschafft, den Wagen geparkt und war nun im Café.
    »Kaffee trinken wir später, ich habe schon bezahlt, jetzt komm erst mal, komm, ich bin schon total erschöpft vom Warten! Es ist gleich nebenan.«
     
    Rodezki hielt seine Stunde ganz mechanisch ab, er registrierte kaum, wovon er redete, wen er an die Tafel rief. Sein Blick klebte an dem leeren Stuhl in der vierten Fensterreihe.
    Shenjas Banknachbarin Karina Awanessowa, ein hässliches dickes Mädchen, sah ihn verdächtig durchdringend an. Er wusste, dass die beiden befreundet waren, jedenfalls war Shenja in der Schule meist mit ihr zusammen.
    Ob sie es ihr schon geflüstert hat, das Gerücht ausgestreut, wie sie sich ausgedrückt hat?
    Er sprach über Puschkins Prosa, über die »Hauptmannstochter«.
    Seine eigene Stimme erreichte ihn wie aus weiter Ferne, als stünde vor der achten Klasse ein mechanischer Doppelgänger, während er selbst noch immer auf der eiskalten Bank saß.
    Sie haben sich geirrt, klar? Und lassen Sie mich endlich in Ruhe! Alter Kinderschänder!
    Noch nie hatte ihn jemand derartig beleidigt. Aber auch er hatte noch nie jemanden derartig beleidigt. Wenn er sich wirklich geirrt hatte, dann war seine Behauptung »Shenja, du lässt dich in Kinderpornos filmen« schlimmer als eine Ohrfeige. Was hatte ihn da nur geritten? Er hätte ihr das nicht so auf den Kopf zusagen sollen. Ihre Reaktion war ganz verständlich und berechtigt. Er hatte es verdient.
    »Aus Puschkins Handschriften ist ersichtlich, dass die Idee zum Roman über Schwanowitsch bereits während der Arbeit am ›Dubrowski‹ entstand.«
    Die Klasse hörte schweigend zu. Fünfundzwanzig Augenpaare waren unverwandt auf den alten Lehrer gerichtet. Im Laufe der vielen Jahre hatte sich Rodezki an die Stille in seinem Unterricht gewöhnt, er bemerkte sie gar nicht mehr, hielt die gespannte Aufmerksamkeit der Schüler für normal. Jetzt aber erschienen ihm ihre Blicke allzu aufmerksam. Sie hörten nicht zu, sie musterten ihn. Spott, Verachtung, Ekel – das meinte er in ihren Augen zu sehen.
    Nein. So geht das nicht. Ich muss die Wahrheit herausfinden. Wenn ich mich geirrt habe und das im Internet ein anderes Mädchen war, muss ich mich bei Shenja entschuldigen und in Rente gehen. Dann darf ich nicht mehr mit Kindern arbeiten. Aber wenn es doch kein Irrtum war, muss ich wenigstens versuchen, ihr zu helfen. Und mit ihrer Mutter reden.
    »In den ersten Entwürfen zur ›Hauptmannstochter‹ tauchen Grinjow und Mascha Mironowa noch nicht auf. Hauptfigur war Iwanowitsch, ein adliger Verräter. Nach Meinung einiger Literaturhistoriker hat Puschkin die positiven Figuren nur der Zensur wegen eingeführt, denn ein Roman, dessen Hauptfigur ein Verräter, ein Staatsverbrecher war, wäre zum Verbot verurteilt gewesen. Doch selbst wenn an dieser Hypothese etwas Wahres ist, sollten wir der zaristischen Zensur dankbar sein für diese wunderbaren Gestalten der russischen Literatur. Mascha Mironowa, Grinjow, der alte Kommandant und seine Frau und schließlich Saweljitsch. Sie sind bis heute lebendig und uns allen eine Stütze, wie Generationen russischer Menschen vor uns. Ihr Edelmut, ihre Reinheit und ihre Liebe erinnern uns daran, dass wir noch immer Menschen

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