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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sind.«
    Die Klingel schrillte. Rodezki schrak zusammen. Ein paar Sekunden lang saß die Klasse noch reglos da. Derartiges weckte in seinen offenen Unterrichtsstunden bei einigen Kollegen heftigen Neid. Normalerweise sprangen die Schüler beim Klingelzeichen sofort auf und rannten lärmend hinaus, als hätten sie die ganzen fünfundvierzig Minuten nur auf diesen glücklichen Augenblick gewartet.
    »Wie schaffen Sie das nur?«, fragte die Direktorin achselzuckend. »Als ob Sie sie verhext hätten.«
    »Schluss für heute, Kinder, die Hausaufgabe steht an der Tafel, die Aufsätze bekommt ihr am Mittwoch zurück.«
    Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und wischte sich die feuchte Stirn.
    »Boris Alexandrowitsch!« Die dicke Karina trat an den Lehrertisch. Ihre schwarzen Augen wirkten erschrocken.
    »Ja, Karina?«
    »Haben Sie die Aufsätze schon korrigiert?«
    »Nicht alle. Warum?«
    »Das Heft von Shenja Katschalowa …« Sie stockte und wurde rot. »Wissen Sie, Shenja ist krank und hat mir ihr Heft gegeben, ich sollte es für sie abgeben. Das war am Donnerstag, und am Abend hat sie mich angerufen und gesagt, es wäre das falsche Heft gewesen. Und mich gebeten, es auszutauschen. Hier, ich hab es mitgebracht. Hier ist der Aufsatz drin.«
    Karina legte ein liniertes Schulheft auf den Tisch.
    »Geben Sie mir das andere bitte zurück. Ich sollte es schon am Freitag umtauschen, aber ich hab nicht dran gedacht, ich hab das Heft jetzt erst in meiner Tasche gefunden.«
    »Natürlich gebe ich es dir zurück. Aber erst morgen. Ich habe es zu Hause.«
    »Zu Hause?!« Karina schien gleich losheulen zu wollen.
    »Ja. Aber warum bist du denn so aufgeregt?«
    »Ich? Ich bin überhaupt nicht aufgeregt. Das kommt Ihnen nur so vor. Es ist nur … Es ist mir peinlich Shenja gegenüber, sie hat mich drum gebeten, und ich hab’s vergessen.«
    »Übrigens – was ist eigentlich mit Shenja?«
    »Das Übliche. Chronische Bronchitis.«
     
    Der Wanderer kam tagelang fast ohne Schlaf aus. Zwei, drei Stunden genügten ihm, um sich frisch und ausgeruht zu fühlen. Für Hominiden war Schlaflosigkeit schädlich und gefährlich. Ihr Gehirn brauchte acht Stunden Erholung.
    Tiere schlafen viel. Der Mensch kann und muss wach sein. Seine Zeit ist zu kurz, um sie mit Schlaf zu vergeuden.
    Der Wanderer lebte nicht ein, sondern zwei Leben. Am schwersten war jedesmal der Übergang von einer Welt in die andere, aus dem Licht in die Finsternis und umgekehrt. Die Hominiden-Haut war wie eine Art Gummianzug, in den er sich hüllen musste, um in die eiskalte, dunkle Tiefe zu tauchen.
    Den ersten Engel hatte er vor langer Zeit befreit, in seiner frühen Jugend. Eher durch Zufall, er hatte es nicht gewollt.
    Er war sechzehn, sie vierzehn. Sie hatte ihn auf den Dachboden gelockt, ihm Hemd und Hose aufgeknöpft und ihr Röckchen hochgehoben. Flanellunterwäsche, Strümpfe mit Haltern, Geschnaufe, schwitzige Balgerei, ein Geruch nach Erdbeerseife. Und dann ihr Lachen. Böses, verächtliches Lachen.
    Er hatte sie nicht töten wollen. Er musste es tun, damit sie verstummte.
    Niemand hatte sie zusammen auf den Dachboden hinaufsteigen sehen. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, ihn, den braven Musterschüler, zu verdächtigen. Es gab in der Gegend genügend kriminelle Jugendliche, und das Mädchen galt als Flittchen. Eine alte Klatschtante erklärte: »Selber schuld, das hat sie davon.«
    Von seiner Großmutter hörte er den Satz: »Der Engel ist fortgeflogen.« Er fragte: »Wohin?« Und die Großmutter antwortete: »In den Himmel.«
    Er begriff, dass er den Engel befreit hatte. Seitdem sah und hörte er die Engel, und mit jedem Jahr wurden ihre Stimmen deutlicher und klagender.
    Viele Jahre bewegte er sich in der Routine der Realität, tief in der ewigen Nacht, jenseits der Apokalypse, sich seiner Mission zwar bewusst, aber noch nicht mutig genug, um zu handeln. Er sah und hörte die Engel, überlegte sich alles ganz genau, schlich um Schulen und Spielplätze herum, doch stets hielt ihn etwas zurück. Er kehrte in die Realität zurück, erschöpft und ausgelaugt, und tröstete sich damit, dass seine Zeit noch nicht gekommen war.
     
    »Sie sind blind und schutzlos, die Erde ist für sie eine Hölle, sie gehören nicht in die Hölle, sie gehören in den Himmel, denn sie sind Engel. Ich bin lange durch den dunklen Tunnel unerklärlicher Leiden gegangen. Warum bin ich so? Warumbin ich anders als Millionen anderer Menschen? Ich habe qualvoll nach Antworten gesucht,

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