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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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die Arme über dem Kopf und fing an zu schluchzen.
    »Sie wird nie mehr kommen, sie hat mich absichtlich hierher abgeschoben. Kein Wunder, sie ist eine schöne junge Frau, und ich bin alt und hässlich. Ich kann sie verstehen. Sie will die Wohnung? Sie soll sie haben, das wäre nur gerecht. Ich war glücklich mit ihr, ganz unverdient glücklich. Ich habe ihr ihre Jugend gestohlen, ihre besten Jahre. Ich habe meine Familie verraten, meine Frau, meine Kinder und meine Enkel. Was bedeutet da schon eine Wohnung?«
    Doktor Filippowa half ihm auf und setzte ihn auf einen Hocker. Der Alte weinte und zitterte.
    »Ich weiß jetzt die Wahrheit, die schreckliche Wahrheit. Ich will nicht mehr leben.«
    »So, was denn für eine Wahrheit?«
    »Meine Frau hat mich absichtlich hierher abgeschoben. Hier werde ich schneller sterben als zu Hause. Sie hat einen anderen, jünger, gesünder und schöner als ich. Sie will die Wohnung. Sie will mich loswerden und ein neues Leben anfangen.«
    »Wer sagt das?«
    »Mein Bettnachbar.«
    »Welcher?«
    »Der Neue mit der Glatze, der vom Riesenrad.«
    »Unsinn, hören Sie nicht auf ihn. Er ist einfach boshaft. Er kennt weder Sie noch Ihre Frau. Er kennt nicht einmal sich selbst und erinnert sich an nichts, und Sie lassen sich von ihm so verunsichern.«
    »Sie brauchen mich nicht zu bedauern!«, rief der Alte und schüttelte den Kopf. »Ihr Mitleid verlängert nur meine Qual.«
    Olga schaffte es nicht, Nikonow zu beruhigen. Er schluchzte erneut. Ein Monat intensiver Therapie zum Teufel. Nun musste sie ganz von vorn anfangen.
    Das traurigste aber war: Seine Frau war bei einem ihrer letzten Besuche zu Doktor Filippowa ins Zimmer gekommen, hatte die Tür geschlossen, ein teures Parfüm auf den Tisch gestellt und erklärt, sie sei Olga so dankbar für alles, sie sei eine wunderbare Ärztin – um sich dann zu erkundigen, wann sie am besten mit einem Notar vorbeischauen könne, damit ihr Mann das Testament unterschreibe, und Olga schließlich zu bitten, ihren Mann offiziell für geschäftsunfähig zu erklären und ihn am besten in ein Heim für Demenzkranke einzuweisen.
    »Sie müssen nicht denken, dass ich so eine bin, die ihren Mann loswerden will. Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich gehe arbeiten, ich kann ihn zu Hause nicht allein lassen, und für eine Pflegerin reicht weder mein Gehalt noch seine Rente«, erklärte sie und schnäuzte sich dezent in ein Papiertaschentuch.
    Olga hatte das Parfüm nicht genommen und der Dame erklärt, ihr Mann sei keineswegs ein so hoffnungsloser Fall, dass er ins Heim müsse. Es wurde ein recht unerquickliches Gespräch. Besonders missmutig reagierte die Dame, als Olga sagte, ihr Mann brauche nur Zuwendung, einfache menschliche Wärme. Er sei in keiner Weise eine Gefahr, weder fürsich selbst noch für seine Umgebung. Die Dame ging, ohne sich zu verabschieden. Später sah Olga, wie sie Nikonow im Flur mit Joghurt fütterte, ihm über den Kopf strich und ihn »mein Vögelchen« nannte. Das Gesicht des Alten spiegelte vollkommenes Glück.
    Wenigstens etwas, dachte Olga seufzend. Jeder dritte Patient bekommt überhaupt nie Besuch. Wir behalten sie hier, solange es geht, dann werden sie auf die Chronikerstation verlegt, und da bleiben sie dann, bis sie sterben. Alle tun einem leid, und niemandem kann man wirklich helfen.
    Nikonow wurde von den Pflegern hinausgetragen.
    Olga stand auf, ging zum Spiegel und strich sich das noch regenfeuchte Haar glatt. Der schwache Schrei des Alten hallte in ihren Ohren nach.
    Warum bin ich so bedrückt? Fällt mir die Arbeit mit den unglücklichen depressiven Alten etwa schwerer als das Wühlen in Psychopathengehirnen?
    Ja, sie fiel ihr tatsächlich schwerer. Hier war sie ständig mit der Unausweichlichkeit von Alter und Tod konfrontiert. Sie beobachtete, wie der Verstand erlosch, wie der Mensch ins Dunkel abtauchte, und konnte nichts dagegen tun. Sah den Schmerz und die Verzweiflung der Angehörigen oder ihren mit Selbstrechtfertigungen gewürzten Verrat. Eisige Barrieren zwischen Menschen, die sich nahestanden, die Schrecken von Einsamkeit und Egoismus. Es gab keine Schuldigen. Nur Opfer. Auch diejenigen, die Verrat übten und ihre alten Angehörigen im Stich ließen, waren Opfer. So viele überzeugende Gründe sie sich auch ausdachten, so sehr sie zu vergessen suchten – es gelang ihnen nicht. Das Gewissen quälte sie, an ihnen nagte die Angst, dass auch sie eines Tages von ihren Kindern und Enkeln zum Sterben abgeschoben werden

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