Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
und eines Tages waren sie da, wie eine Erleuchtung. Ich bin anders als die anderen, weil die anderen keine Menschen sind. Seligkeit erlangen, Mensch werden im ursprünglichen, göttlichen Sinn kann man nur, wenn man sich reinigt, sich von der giftigen Wurzel der Lüsternheit befreit. Hundertfach selig aber ist, wer von Geburt an frei davon ist. Er ist ein Auserwählter.«
    Der Wanderer entdeckte, dass er auf dem Fußboden saß und eine Kassette hörte. Wann war er aufgestanden, hatte die Kassette vom Regal genommen und das Gerät eingeschaltet? Ein paar Minuten, ein paar simple Handlungen hatten sich aus seinem Gedächtnis verflüchtigt wie Atemhauch auf einer Fensterscheibe. Die Stimme vom Band ähnelte der in seinem Kopf. Hoch und sanft, ein wenig träge, als befände sich der Sprechende in tiefer hypnotischer Trance. Das verlieh den Worten absolute Glaubwürdigkeit. Im Schlaf log der Mensch nicht.
    »Ich habe sie darüber sprechen hören, was sie heute im großen Haus Gutes zu essen bekommen würden. Ein Mädchen erklärte einem anderen, es tue nur am Anfang weh, dann nicht mehr. Wenn sie von dort zurückkehrten, schaute ich aus der Dunkelheit in ihre Gesichter, in ihre blinden Augen, und mir schien, als schlügen darin lebendige, reine Engel hilflos mit den Flügeln wie Vögel im Käfig. Warum tötete ich nicht die Schweine, die die blinden kleinen Waisen missbrauchten? Weil sie ohnehin tot waren.
    Eines Nachts sah ich einen dieser Toten aus dem Wasser steigen. Er hatte gewettet, dass er über den ganzen See schwimmen könnte, und die Wette gewonnen. Nackt, nass und fett hüpfte er am Ufer herum und schwenkte triumphierend die Arme. Er war betrunken. Ich wurde sehr schnell mit ihm fertig. Ich überfiel ihn von hinten, presste seinen Hals zusammen und drückte auf die Schlagader. Als er nicht mehr zappelte, schleifte ich seinen Körper auf das Steilufer undstieß ihn hinunter ins Wasser. Es war widerlich, ich fühlte mich, als hätte ich einen gigantischen Wurm zerquetscht. Es verlieh mir keine neue Kraft, im Gegenteil, ich war erschöpft. Vom üblen Gestank des Bösen.
    Er war General, Held der Sowjetunion. Er kam oft in das große Haus am anderen Ufer, er mochte die jüngsten Mädchen, die Siebenjährigen. Als ich im Lebensmittelladen an der Bahnstation nach Wurst anstand, hörte ich eine Erzieherin der Heimköchin zuflüstern, Gott habe den verfluchten Teufel bestraft. Wenn sie wüssten, dass ich dieser Gott war!
    Als sie die Leiche aus dem Wasser zogen, erklärte der Arzt sofort, es sei ein Unfall gewesen. Ein Herzanfall.
    Den Herzanfall hatte er vermutlich bekommen, als ich ihn im Dunklen überfiel. Ich glaubte, ihn zu töten, dabei war er schon tot. Er war immer tot gewesen. Tote zu töten ist sinnlos. Ich muss die Lebenden retten.«
    Der Wanderer schaltete das Gerät aus, entnahm die Kassette, zog das Band heraus, knüllte es zusammen, ging damit in die Küche, holte eine große Obstschale aus Messing vom Regal, legte das Band hinein und zündete es an. Bevor er die leere Hülle wegwarf, kratzte er den Papieraufkleber ab, auf dem mit kleinen Buchstaben stand: Dawydowo. 1983 –1986.
    Der Wanderer ging zum großen Flurspiegel und betrachtete sich. Er war sauber rasiert, ordentlich gekämmt und trug einen tadellosen teuren Anzug. Er verzog die starren Lippen zu einem Lächeln. Seine großen weißen Zähne blitzten auf, Glanz trat in seine Augen, die er zusammenkniff. Er sah aus wie ein Hominide. Er war gewappnet, furchtlos und ohne Zweifel erneut in die Finsternis der ewigen Nacht zu tauchen.
     
    Der alte Nikonow hatte einen Anfall. Olga hörte seine Schreie schon auf der Treppe.
    Nikonow litt an involutionärer Depression. Der Grund dafür war seine Frau. Die zwanzig Jahre jüngere, auffälligemollige Blondine besuchte ihn relativ häufig, doch dem alten Mann erschienen die Abstände zwischen ihren Besuchen wie eine Ewigkeit.
    »Sie wird nie mehr kommen! Ich will nicht mehr leben! Keiner braucht mich, ich bin allen im Wege!«
    In letzter Zeit hatte sich sein Zustand gebessert, Doktor Filippowa wollte ihn sogar entlassen, und nun auf einmal diese abrupte Verschlechterung. Zwei Pfleger hielten ihn im Sprechzimmer fest, und er wehrte sich, weinte und versuchte, sich das Gesicht zu zerkratzen.
    »Was ist passiert, Pawel?«
    Auf ein Zeichen von ihr ließen die Pfleger den Alten los. Als er merkte, dass er nicht mehr festgehalten wurde, ließ er sich kraftlos zu Boden sinken, krümmte sich zusammen, verschränkte

Weitere Kostenlose Bücher