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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Als ich da reingeraten bin, war ich noch klein, gerade elf. Erst waren es nur Videos. Stas, Ika, Jegorka und ich. Wir fanden es lustig, nackt vor der Kamera rumzuspielen. Mark hat gemeint, dann habt ihr später im Leben keine Komplexe.
    Na ja, und natürlich die Kohle.
     
    Olga schickte die Praktikanten zu Doktor Pjatakowa auf die Frauenstation und rief den Karussellfahrer zu sich.
    »Warum haben Sie das getan?«
    »Erst mal guten Tag. Zweitens – Sie sehen heute phantastisch aus. Drittens – was habe ich denn Schlimmes getan?«
    »Warum haben Sie den alten Nikonow gekränkt?«
    »Ich? Einen alten Mann gekränkt? Um Gottes willen, dasist vollkommen ausgeschlossen. Ich bin ein herzensguter Mensch. Mitgefühl und Barmherzigkeit, das ist meine Devise.«
    »Sehr schön.« Sie nickte und lächelte. »Was können Sie mir noch über sich mitteilen? Wie heißen Sie? Wann und wo sind Sie geboren? Was tun Sie?«
    »Was ich tue?« Er blickte zur Decke. »Ich werde verrückt.«
    »Vielleicht versuchen wir es mal mit einem Wahrheitsserum? Ein Amythal-Koffein-Mix zur Enthemmung?«
    »Was für ein Zeug?« Er verzog das Gesicht.
    »Eine Spritze. Vollkommen harmlos. Man entspannt sich und hört auf zu lügen. Hat keine Nebenwirkungen, wird nach einigen Stunden mit dem Urin wieder ausgeschieden.«
    Er senkte den Kopf, starrte auf die Krankenhauslatschen aus rotem Kunstleder, schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich habe gehört, man nennt mich hier Karussellfahrer. Wissen Sie, warum?«
    »Sie wurden vom Riesenrad im Kulturpark runtergeholt.« Sie seufzte müde. »Nicht sehr originell. Vor kurzem gab es in den Fernsehnachrichten einen Bericht – ein Vater saß mit seinem kleinen Sohn auf diesem Riesenrad fest. Allerdings haben die beiden im Gegensatz zu ihnen um Hilfe gerufen. Sie wurden ziemlich rasch heruntergeholt und hatten keine Amnesie.«
    »So was.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe also nicht geschrien und um Hilfe gerufen? Interessant. Und wie lange war ich da oben?«
    »Etwa sieben Stunden. Davor waren Sie beim Friseur, haben sich kahlscheren und den Bart abrasieren lassen.«
    »Super! Ich wusste gar nicht, dass ich mal einen Bart hatte. Wie sind Sie darauf gekommen?«
    »Die Haut auf Oberlippen, Wangen und Kinn ist viel heller. Und frisch gereizt vom Rasieren. Außerdem fassen Sie sich dauernd ins Gesicht und betasten Ihren Kopf. Sie fühlen sich nackt, das ist ungewohnt für Sie.«
    »Oho!« Er spitzte die Lippen und schnalzte mehrmals ironisch-anerkennend mit der Zunge. »Sie sind nicht zufällig nebenbei noch Kriminalistin?«
    »Wissen Sie was, ich werde Sie wohl entlassen.«
    »Wie?«
    »Ganz einfach. Ich entlasse Sie, und Sie gehen, wohin Sie wollen.«
    »Wohin? Wohin soll ich denn gehen? Ich erinnere mich weder an meinen Namen noch an meine Adresse.«
    »Sie erinnern sich sehr wohl. Schluss mit dem Theater. Sie sind vermutlich in ernstlichen Schwierigkeiten, darum haben Sie sich bei uns verkrochen.«
    »Ja«, er nickte ergeben, »ich bin wirklich in Schwierigkeiten. Ich habe vergessen, wer ich bin. Bitte, Sie dürfen mich nicht entlassen. Dann setze ich mich draußen auf eine Bank und bleibe einfach da sitzen. Ich weiß nämlich nicht, wohin. Wir haben einen ziemlich kalten April, mit Nachtfrösten. Ich werde mich erkälten und sterben. Und Sie sind schuld. Hat sich übrigens die Katze Dussja wieder angefunden?«
    »Nein.«
    »Das dachte ich mir. Es ist Frühling. Sie dürfen mich nicht einfach ohne Diagnose entlassen. Und eine psychiatrische Diagnose, das ist ein weites Feld. Ich kann gern den Irren markieren, den Tobsüchtigen oder den Stillen, wie Sie wollen. Erinnern Sie sich an den Film ›Einer flog übers Kuckucksnest‹?«
    Er krümmte sich, öffnete den Mund, rollte mit den Augen und begann zu zittern.
    »Hören Sie auf.« Olga verzog das Gesicht. »Aus Ihnen wird kein Nicholson.«
    »Das will ich gar nicht.«
    »Sondern? Was wollen Sie dann?«
    »Hilfe. Nichts weiter als Ihre professionelle Hilfe. Helfen Sie mir, mich zu erinnern, wer ich bin. Womöglich haben Sie recht und ich versuche wirklich, mich zu verstecken. Aberwohl kaum vor äußeren Problemen, eher vor inneren. Vor mir selbst. Ich habe mich bis obenhin satt, ich will nicht mehr ich sein, in meinem Kopf ist etwas blockiert. Eine Art Selbstmord, bloß nicht physisch, sondern psychisch.«
    Olga sah ihn eine Weile nachdenklich an.
    »Sie wollen sich also wirklich erinnern?«
    »Tja, was soll ich dazu sagen?« Er runzelte die Brauen und senkte

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