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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Sie da weg?«, erkundigte sich eine Praktikantin.
    »Weil ich ausgebrannt war. Hören Sie, meine Damen und Herren Studenten, ich glaube, das ist nicht unser Thema.«
    Sie standen um Doktor Filippowa herum und sahen sie mit glühenden Augen an. Eben noch hatten sie sich gelangweilt. Depressionen, Altersdemenz – nicht gerade lustig. Doch nun hatte einer nach den Triebtätern gefragt, und schon waren alle hellwach.
    »Warum wurde das Team von Guschtschenko aufgelöst?«
    »Auf Anordnung des Ministers.«
    »Ist der Kannibale, der aus den Frauen Pelmeni gemacht hat, wirklich aus der Klinik abgehauen und läuft jetzt frei rum?«
    »Ja.«
    »Empfinden Triebtäter Reue, Gewissensbisse?«
    »Ja.«
    »Alle?«
    »Fast alle, in der einen oder anderen Form.«
    »Warum wird jemand zum Triebtäter?«
    »Das weiß niemand.«
    »Aber findet man wenigstens manchmal heraus, warum jemand so geworden ist? Eine schwere Kindheit? Ein Schädeltrauma? Schizophrenie?«
    »Manchmal, aber nicht immer. Die menschliche Psyche ist noch zu wenig erforscht, um allgemeingültige Schlüsse zu ziehen.«
    »Haben Sie Tschikatilo mal gesehen? Mit ihm gesprochen?«
    »Ja, beides.«
    »Und?«
    »Nichts. Jämmerlich, höflich, ein Langweiler, redete gern über sich und klagte, dass man sich so wenig für seine Persönlichkeit interessiere, sich zu wenig mit seinem reichen, komplizierten Innenleben beschäftige.«
    »Erzählen Sie von dem schlimmsten Mörder, mit dem Sie zu tun hatten.«
    »Das hier ist eigentlich keine Pressekonferenz.«
    »Also, ich möchte später in die Gerichtspsychiatrie«, erklärte ein großes, schlankes Mädchen, den Blick unter ihrem roten Haarschopf auf Olga gerichtet. »Ich weiß nicht, was die anderen meinen, ich jedenfalls will mehr darüber wissen.«
    Olga begriff: Das Mädchen würde tatsächlich nicht lockerlassen.
    »Was genau willst du denn hören?«
    »Wer war der Schlimmste? Wer empfand keine Reue, überhaupt keine? An wem war nichts Menschliches mehr? Kein Mitgefühl, kein Gewissen, nichts.«
    »Mörder, die überhaupt keine Reue kannten, habe ich kaum getroffen. Womöglich nur einen Einzigen. Ja, er war wohl der Schlimmste. Wjatscheslaw Redkin.«
    Kaum hatte sie den Namen genannt, sah sie deutlich sein Gesicht vor sich und überlegte: An wen erinnert er mich bloß?
    Ein rotwangiger, weißhäutiger Mann, der mit seinen siebzig aussah wie vierzig. Chefingenieur einer Werkzeugmaschinenfabrik. Moskauer mit technischer Hochschulbildung. Verheiratet, zwei Kinder, vier Enkel. Hatte sich heimlich eine zweite Frau zugelegt, ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen, Inna, für die er eine bescheidene Wohnung am Stadtrand von Moskau mietete. Eine ziemlich banale Situation, bis auf die Details: Inna war geistig zurückgeblieben, debil. Jedes Jahr wurde sie schwanger und brachte ein Kind zur Welt. Geburtshilfe leistete Redkin selbst. Die Plazenta aß er sofort; Blut, Leber, Herz und Gehirn der Säuglinge lagerte er im Kühlschrank, verzehrte sie nach und nach und trank dazu die Muttermilch seiner Geliebten.
    »Schauen Sie doch, wie blendend ich aussehe«, sagte er zu Olga und Professor Guschtschenko. »Ich studiere und nutze die alten Rezepte der Jugendelixiere. Sie nehmen doch auch tierisches Eiweiß zu sich, und Eisenpräparate aus Kälberblut, nicht wahr? Benutzen aus Plazentapräparaten hergestellte Kosmetika. Die Downkinder, die Inna geboren hat, waren nichts anderes als Kälber. Und sie selber, war sie etwa ein vollwertiger Mensch?«
    »Redkin empfand nicht die geringste Reue. Er wurde für schuldfähig erklärt und im Gefängnis von Mitinsassen erwürgt.« Olga schaute die verstummten Studenten an. »So, genug jetzt.«
    »Träumen Sie manchmal von ihm?«, fragte das Mädchen mit dem roten Schopf.
    »Ich habe gesagt, es reicht.«
    Olga träumte tatsächlich manchmal von Redkin, in den schlimmsten Alpträumen erschienen ihr sein selbstzufriedenes Lächeln, seine weißen Zähne, seine gesunde Röte, seine klaren blauen Augen.
    Der Karussellfahrer lächelt ähnlich, er hat genauso weiße Zähne, so rote Lippen und ebenso zarte, rosige Haut, und seine Augen sind genauso klar, bloß nicht blau, sondern braun.

Zwölftes Kapitel
    Es war tatsächlich ein ganz normales Schulheft. Kein Wunder, dass das Mädchen es mit dem Aufsatzheft verwechselt hatte. Noch nie im Leben hatte Rodezki ein fremdes Tagebuch gelesen. Die Entscheidung fiel ihm schwer, er fühlte sich fast wie ein Dieb.
    Die Schrift war so krakelig und schwer entzifferbar,

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