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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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waren.
    Der Weg von der Bahnstation zur Siedlung führte an einem verschneiten Feld vorbei und durch einen Kiefernwald. Sie kamen spätabends an. Über dem Feld leuchteten die Wintersterne. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen, der Frost verklebte die Nasenlöcher und machte sie leicht schwindlig.Im Haus gab es außer der Heizung auch einen Ofen. Sie heizten ihn immer und buken in der Asche Kartoffeln. Kartoffeln mit grobem Salz und Tee aus getrockneten Johannisbeerblättern – das war ihr Abendbrot. In der Siedlung fiel oft der Strom aus, und sie verbrachten die Abende bei Kerzen und dem Schein einer Petroleumlampe.
    Olgas Gesicht bekam eine gesunde, gar nicht städtische Rosigkeit, und das stand ihr sehr. Überhaupt wurde sie in diesen drei Monaten noch schöner.
    Filippow besuchte sie an Wochenenden und übernachtete im Nebenzimmer, hinter einer dünnen Wand. Nur diese beiden Zimmer waren beheizbar. Dima und Olga hörten ihn atmen und sich herumwälzen, und auch er hörte jede Bewegung, jedes Flüstern, jeden Seufzer.
    Abends gingen sie zusammen spazieren. Der Frost färbte Filippows Nase rot und ließ seine Brille beschlagen. Zu dritt gingen sie den schmalen Pfad zwischen den Föhren entlang. Filippow erzählte von Napoleons Afrika-Feldzügen und von dem Franzosen Jean-François Champollion, der als Erster die ägyptischen Hieroglyphen entziffert hatte. Mit elf Jahren hatte Champollion den berühmten Physiker Fourier kennengelernt, seine ägyptische Sammlung gesehen und verkündet: »Ich werde das entziffern.«
    Olga hörte zu, und ihre Augen glänzten im Dunkeln. Filippow gestikulierte eifrig, die Hände in dicken Fäustlingen.
     
    Das Telefonklingeln durchbrach die Stille im Büro.
    Olga, rief Solowjow in Gedanken und griff nach dem Hörer. Aber es war nicht Olga.
     
    Erst um Viertel neun konnte Olga durchatmen. Der Tag war vollgestopft gewesen, und sie hätte beinahe vergessen, dass ein Wagen vom Fernsehsender sie um neun abholen würde. Die Beine taten ihr weh von der Rumrennerei zwischen den Etagen und den Gebäuden, allein oder mit einer Schar Studenten.
    Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel und fand, dass sie furchtbar aussah. Blaue Ringe unter den Augen, das Gesicht grünlich bleich. Egal, das konnte die Maske richten. Aber ihre Haare sahen nach der Rennerei bei Schnee und Regen aus wie Werg.
    Neben dem Bereitschaftszimmer war eine Dusche. Olga borgte sich von einer Schwester Shampoo und Gummilatschen und schloss sich in der Kabine ein. Ein kräftiger heißer Wasserstrahl – das war fast eine Wiederbelebung. Zehn Minuten unter der Dusche, und das Leben konnte weitergehen.
    Während sie ihre Gedanken für das Fernsehgespräch sortierte, fragte sie sich zum wiederholten Mal, warum Serientäter auf so großes öffentliches Interesse stießen.
    Die schlimmsten Verbrecher, Kannibalen und Vampire waren in der Regel höchst graue, langweilige Geschöpfe. Nichts Geheimnisvolles. Ihre psychische Pathologie war nichts anderes als eine konzentrierte Manifestation ihrer Mittelmäßigkeit.
    Das Innenleben der Vergewaltiger und Serienmörder, mit denen Doktor Filippowa gearbeitet hatte, war arm und öde, es bestand im Wesentlichen aus sexuellen Problemen, als seien die Genitalien das A und O des Menschen. Die Misshandlung der Opfer war ein Versuch, sich von der eigenen beschämenden Unzulänglichkeit zu befreien. Nicht einen fremden Leib zerfetzten und zertrampelten die Täter, sondern ihre eigenen Komplexe.
    Anatoli Pjanych, der Würger von Dawydowo, bestätigte diese Theorie. Ein hässlicher Mann mit einer Hasenscharte, ein wandelnder Minderwertigkeitskomplex.
    Dass es in den Archiven keinerlei Informationen über Pjanych gab, war nicht weiter erstaunlich. Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre waren viele Strafakten vernichtet worden. Mit der UdSSR war auch das alte Rechtssystem zusammengebrochen. Ein neuer Minister kam auf die Idee,die Archive zu säubern. Besonderer Eifer galt dabei den Fällen von Serienmördern, Vergewaltigern und Kannibalen. Ein Tribut an die Scheinheiligkeit der sowjetischen Nomenklatura.
    Die Funktionäre und Parteibeamten verzogen das Gesicht, wenn von Prostitution, Pornographie, Homosexualität oder Sexualmördern die Rede war. Vor allem aber waren bei der Untersuchung von Serienmorden zu viele Fehler gemacht, hier und da sogar Unschuldige hingerichtet worden.
    »Ach was«, sagte Dima, »das reden wir uns gern ein, dass hinter der Vernichtung der Archive eine

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