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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Absicht steckte, eine bestimmte Logik. In Wirklichkeit war es nichts weiter als die dumme Laune eines neuen Ministers. Wenn dir der unglückselige Pjanych keine Ruhe lässt, besuch doch mal meinen alten Freund Lobow. Er war bei den letzten beiden Opfern in Dawydowo mit dem Team am Tatort.«
    Olga rief den alten Mann an, er lud sie zu sich ein und erzählte ihr über den Würger von Dawydowo alles, woran er sich erinnerte, oder besser alles, was er glaubte erzählen zu können.
    Das erste blinde Kind war im Juni 1983 umgekommen. Es wurde im Heim vermisst, dann fand man seine Kleider am See, schließlich die Leiche im Wasser. Der Vorfall wurde als Unfall behandelt. Das siebenjährige Mädchen war beim Baden ertrunken. Unklar war bloß, warum es mitten in der Nacht baden gegangen war.
    Angestellte aus dem Heim erzählten zu Hause hinter vorgehaltener Hand, das Kind sei in Wirklichkeit erwürgt und vergewaltigt und dann in den See geworfen worden. Ein Strafverfahren wurde nicht eingeleitet. Und merkwürdigerweise wurde niemand von der Heimleitung zur Verantwortung gezogen.
    »Warum?«, fragte Olga.
    Der alte Kriminalist sagte: »Ich weiß es nicht.«
    Aber an seinen gerunzelten Brauen und seinem abgewandtenBlick erkannte Olga: Er wusste es. Aber er würde es ihr nicht sagen.
    Im August »ertrank« ein weiteres Mädchen. Der Vorfall glich dem ersten aufs Haar. Nur war das Kind zwei Jahre älter, neun. Und wieder geschah nichts. Ein Unfall. Das Mädchen war in der Nacht baden gegangen. Für Blinde gebe es ja keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
    Die nächste Leiche wurde Mitte Oktober gefunden. Ein Junge, acht Jahre alt. Nun wurde von einer Serie gesprochen. Ein Ermittlerteam aus Moskau reiste an, alles, wie es sich gehört. Ein ortsbekannter Alkoholiker wurde festgenommen, der zehn Jahre zuvor wegen Vergewaltigung gesessen hatte und in der psychiatrischen Betreuungsstelle registriert war, und zu einem Geständnis gebracht.
    Bis Mai 1985 gab es keine Morde mehr, dann, am 9. Mai., am Tag des Sieges – ein zwölfjähriges Mädchen. Zu diesem Zeitpunkt saß der geständige Alkoholiker im Gefängnis. Lobow hatte nicht mehr erfahren, ob er damals freigelassen worden war oder nicht.
    Erneut gab es Ermittlungen, Vernehmungen – ohne jedes Ergebnis. Das Kinderheim wurde bewacht, Milizleute aus Moskau saßen getarnt im Wald und als Angler am See – das volle Programm.
    Anderthalb Jahre war Ruhe. Die Wachen wurden natürlich abgezogen. Die Kinder konnten das Heimgelände wieder verlassen.
    Bei von Geburt an Blinden sind die übrigen Sinne besonders gut ausgeprägt – Gehör, Tast- und Geruchssinn. Das ersetzt ihnen zum Teil das Sehen. Die Heimkinder kannten sich in der Gegend gut aus. Die Älteren bekamen manchmal von den Erzieherinnen Geld für Süßigkeiten und gingen sogar allein in den Laden an der Bahnstation, das gehörte zum Erziehungs- und Adaptionsprogramm. Die Kinder durften auch sonst das Heimgelände verlassen und zum Beispiel an den See gehen, allerdings nicht allein, sondern in Begleitungihres Sportlehrers, eben jenes Anatoli Pjanych. Wer schwimmen konnte, durfte im Sommer baden. Aber natürlich nur am Tag.
    Im Juli 1986 geschah ein weiterer Mord. Ein sechzehnjähriges Mädchen, nicht vollkommen blind, sondern stark sehbehindert. Sie trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern. Wieder fanden sich keine Zeugen. Eine Sackgasse.
    Ministeriumskommissionen gaben sich im Heim die Klinke in die Hand, wichtige Beamte aus dem Bildungs- und dem Gesundheitsministerium verlangten sofortige Maßnahmen, hielten flammende Reden über Verantwortung und Barmherzigkeit, nannten die Kinder »unser aller Kinder, die uns am Herzen liegen«. Doch es geschah nichts. Das heißt, es geschah einiges, tonnenweise Papier wurde mit offiziellen Berichten vollgeschrieben, aber alles vergeblich.
    Am Tag nachdem das letzte Mädchen gefunden worden war, kam der Sportlehrer Pjanych ins Büro der Heimleiterin gerannt. Dort saßen gerade drei Kriminalisten. Pjanych erklärte, er wolle eine Aussage machen.
    »Ach, hast dich endlich entschlossen?«, fragte die Direktorin. »Lässt dir das Gewissen keine Ruhe? Du hast doch die Kinder vergewaltigt und umgebracht!«
    Pjanych stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf die Direktorin, schrie und beschimpfte sie. Er war angetrunken.
    Der Sportlehrer Pjanych war ein sonderbarer, stiller und schüchterner junger Mann. Wegen seiner Hasenscharte arbeitete er mit Blinden – er schämte sich seiner

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