In ewiger Nacht
neu anfangen, ein ganz normales Mädchen werden.«
Wer – er? Etwa dieser Sänger, dieser Kannibale und Nekrophile, dem sie sich an den Hals geworfen hat?, stöhnte Sazepa im Stillen.
Wenn er wovon erfährt? Von mir? Aber sie wäre kaum mit mir in den Klub gegangen, wenn sie davor Angst hätte.
»Shenja«, sagte Castroni, »ich mag es ja, wenn du Russisch sprichst, es klingt sehr schön, aber ich verstehe kein Wort. Was ist los mit dir?«
»Liebst du mich wirklich, Nick?« Die Frage stellte sie auf Englisch, in dramatischem Flüsterton.
»Ja doch, Shenja, natürlich, ich liebe dich sehr. Das habe ich dir schon oft gesagt.«
»Worte bedeuten nichts. Könntest du für mich töten? Könntest du den Mann töten, der meine Kindheit zerstört und in den Dreck getreten hat? Der mich gezwungen hat, mich vor einer Kamera nackt auszuziehen und Dinge zu tun, von denen du in deinen schlimmsten Träumen nichts ahnst? Und wenn es nur das gewesen wäre! Aber nein, das hat ihm nicht gereicht. Er musste mich auch noch verkaufen.«
Sazepa kam es vor, als probe sie eine Rolle in einem Melodram. Castroni stöhnte leise vor Erregung und Mitleid.
Na prächtig, dachte Sazepa. Noch eine Person mehr. Erst waren wir nur zu zweit, sie und ich, nun sind wir schon vier.Der Dritte ist, wenn ich das richtig sehe, dieser Vaselin. Wer ist wohl der Vierte? Wen soll ich töten?
»Shenja! Hör auf! Was phantasierst du da, Kleines? Warum?«, flüsterte Castroni, der das Spiel der Signorina ernsthaft mitspielte.
»Warum?«, jaulte Shenja. »Weil ich so nicht mehr weiterleben kann. Ich will Schluss machen. Aber er hat Videobänder. Wenn ich aussteige, wird er dafür sorgen, dass meine Eltern, meine Lehrer und meine Mitschüler das alles zu sehen kriegen. Dazu ist er imstande, das weiß ich. Das hat er schon mal gemacht; er hat reiche, berühmte Männer mit mir oder anderen Mädchen und Jungen gefilmt und sie dann erpresst. Und die haben gezahlt. Jetzt erpresst er mich. Er verlangt einen Haufen Geld. Er hat schon Bilder ins Internet gestellt, auf denen man nicht nur den Körper sieht, sondern auch das Gesicht.«
Das kann nicht sein, schrie Castroni im Stillen. Das denkt sie sich aus!
Du weißt nicht das Geringste von ihr, widersprach Sazepa müde, so oft triffst du dich nicht mit ihr. Wie ihr Leben außerhalb eurer Beziehung aussieht, kannst du gar nicht wissen.
Wenn das wahr wäre, beharrte Castroni, dann hätte ich es doch gemerkt, ich hätte es gespürt.
Gemerkt? Gespürt? Sazepa lachte bitter. Erinnere dich, wie mühelos sie sich mit dir eingelassen und wie geschickt sie dir Geld aus der Tasche gezogen hat. Glaubst du im Ernst, sie hat Freude an euren Bettspielen? Oder hoffst du vielleicht, sie wäre verliebt in dich alten Kretin? Komm zu dir! Sie hat für Geld mit dir geschlafen. Warum meinst du, dass sie das nicht auch mit anderen tut?
»Wer ist er? Wie heißt er?«, fragte Sazepa, als Shenja verstummte.
»Mark. Wie weiter, weiß ich nicht. Seine Adresse auch nicht. Er mietet immer mehrere Wohnungen gleichzeitig und wechselt sie häufig. Er ist schlau und vorsichtig, der Mistkerl. Er arbeitet allein, ohne Komplizen. Im Moment hat ernur vier von uns zu laufen, zwei Mädchen und zwei Jungen. Er sucht die Kinder sehr sorgfältig aus, keine Waisen, nicht drogensüchtig, sondern gesund und normal, aber so drauf, dass sie ihren Eltern nichts erzählen.«
Castroni bebte vor Mitleid, aber Sazepa unterdrückte sein zweites Ich und stellte Shenja eine weitere Frage: »Hast du ihm von uns beiden erzählt, von mir?«
»Nein. Niemals.« Sie schluchzte auf. »Keine Angst, Nick. Du fliegst zurück nach Rom, dich kennt hier niemand. Wenn du Russe wärst und einen hohen Posten hättest, dann sähe das anders aus.«
»Wie meinst du das?«
»Von Ausländern lässt Mark die Finger.«
»Du hast es ihm also doch erzählt?«
»Nein, hab ich nicht! Beruhige dich.«
»Moment – wieso hast du gesagt: Wenn ich Russe wäre? Was würde das ändern?«
»Keine Ahnung! Lass mich in Ruhe!« Sie heulte auf. »Du bist genau wie alle! Du denkst nur an dich, ich bin dir scheißegal! Ich kann so nicht mehr leben! Wenn ich nicht von ihm wegkomme, schlucke ich Tabletten und springe aus dem Fenster!«
Castroni wurde ohnmächtig. Vermutlich erlitt er einen Herzinfarkt, starb langsam dahin und streckte mit letzter Kraft die zitternde Hand aus, um seine kleine Signorina zu berühren, aber der böse Sazepa hinderte ihn daran.
»Wenn ich richtig verstanden habe,
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