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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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reden?«
    »Natürlich habe ich das. Sie hat gelacht, allerdings ziemlich künstlich, hat gesagt, das sei Blödsinn, und mich an die Geschichte mit der Drogenberatung erinnert. Ja, ich denke, Vaselin ist der Vater.«
    Solowjow fiel die Musik ein, die bei den Katschalows gedröhnt hatte, die heisere Stimme: »Dein za-artes Herz, die geschmeidige Leber, deine Lungentrauben und dein sü-üßes Blut.«

Sechzehntes Kapitel
    Eigentlich hieß er Valentin Kuwajew. Vaselin war sein Spitzname in der Kindheit gewesen. Für eine Popgruppe und als Pseudonym des Solisten war der Name durchaus passend. Er war zweiundvierzig, wirkte aber von weitem, besonders auf der Bühne, bedeutend jünger.
    1992 hatte er in einer beliebten Late-Night-Fernsehshow seinen ersten öffentlichen Auftritt. Was er dem Publikum bot, erinnerte an klassische Romanzen – Text, Melodie, die Mimik des Interpreten. Tournüre, knarrende Türen, der sanfteSchatten eines Mädchens, Chrysanthemen, ein gebrochenes Herz. Aber die dritte Strophe enthüllte, dass das Herz nicht im übertragenen Sinn gebrochen worden war, sondern ganz real. Herausgerissen aus der aufgeschlitzten weißen Brust der lyrischen Heldin und zerteilt wie eine reife Tomate. Weiter berichtete der Sänger, noch immer im klassischen Opernbass, wie er es »kaute, das rohe, feste Herz, knirschende Arterien zwischen den Zähnen, und warmes Blut rann still von den Lippen in den Kragen«. In der letzten Strophe spießte er den abgetrennten Kopf seiner jungen Freundin auf den schmiedeeisernen Zaun, steckte eine Chrysantheme in ihre Locken, und »mit traurigen Augen schaut sie nun auf die weißen Akazien«.
    Damals, vor zwölf Jahren, hatte der Moderator der Talkshow mit skeptischer Miene verhalten applaudiert und von Postmoderne und Malewitschs schwarzem Quadrat geredet, aber er musste nicht viel sagen – der Sender wurde mit Anrufen bombardiert. Die einen waren empört und wütend, die anderen begeistert. Gleichgültig blieb niemand.
    Mit dieser Show fing alles an. Ein cleverer junger Produzent nahm Vaselin unter Vertrag, es folgten Ruhm, Geld, Verehrerinnen, Aufsehen in der Presse, Gastspiele. Fast bei jedem Konzert gab es einen Skandal.
    Vaselin blieb nicht bei Romanzen, er verarbeitete auch sowjetische Schlager, patriotische und weißgardistische Lieder und Songs russischer Barden, benutzte die alten Traditionen, warf die gängigsten Klischees auf einen Haufen und schöpfte daraus einen neuen Sinn. Dieses Konglomerat aus Text und Musik vermischte Vaselin mit Blut, Exkrementen und Schmutz aller Art und kippte die aberwitzige Mixtur über dem dankbaren Publikum aus. Der Saal brüllte und stöhnte bei seinen Konzerten. Mädchen rissen sich die Kleider vom Leib und stürmten kreischend die Bühne. Es kam zu Prügeleien, Zuschauer aus den hinteren Reihen drängten nach vorn, trampelten andere nieder.
    Aber mit den Jahren ließ das Interesse nach und musste durch immer neue PR-Aktionen ständig neu angefacht werden. Bei jedem Auftritt, besonders in der Provinz, wurde deutlicher: Es musste etwas passieren. Das letzte Konzert in dem Provinznest Lapin war der absolute Tiefpunkt gewesen. Der Saal war fast leer, als bedeuteten zwölf Jahre Ruhm überhaupt nichts.
    Alles lief von Anfang an schief. Ihr Bus blieb im Stau stecken, und aus der Fahrerkabine drang die Kieksstimme eines Konkurrenten von Vaselin, des Solisten der Gruppe »Chips«. Der Fahrer hörte dessen neuesten Hit, und zwar nicht mal im Radio, sondern von einer CD.
    Auf dem Platz vor dem Konzertsaal war absolut nichts los, sie konnten die Sicherheitsleute ruhig wegschicken. Oder am besten – gleich umkehren und wieder nach Hause fahren. Nur hundert Meter weiter war der Platz etwas belebter – dort gab es einen kleinen Markt und ein Straßencafé mit Bier und Imbiss. Die Leute an den Tischen davor warfen nicht einmal einen Blick auf den Bus, mit dem der berühmte Vaselin in das verrottete Lapin gekommen war.
    Dabei war hier noch ein Jahr zuvor der Teufel los gewesen. Eine Einsatzgruppe der Miliz hatte nur mit Mühe die Menge der Jugendlichen bändigen können, die auf ihr Idol warteten. Jungen und Mädchen, nicht nur aus Lapin, sondern auch aus Moskau und anderen Städten, rissen sich darum, ein Autogramm zu ergattern oder Vaselins Kleidung zu berühren.
    »Mach dir keinen Kopf«, sagte der Manager. »Wir sind früh dran, es sind noch zwei Stunden bis zum Konzert.«
    Vaselin reagierte nicht. Er spürte, wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde

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