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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Pornoseiten an?
    Nein, das tue ich nicht. Ich bin zufällig darauf gestoßen. Ich muss mich nicht rechtfertigen, ich habe nichts getan. Ich arbeite mein Leben lang mit Kindern, und niemand hat mir je etwas vorwerfen können.
    Rodezki saß eine Weile regungslos da und lauschte auf die seltsame Totenstille.
    Bei Dante herrscht im letzten, dem neunten Kreis der Hölle nicht Hitze, sondern Kälte. Dort, auf dem Grund derHölle, liegen Menschen »vom rauhen Froste eingebettet da«. Eiskalte ewige Nacht.
     
    Die ersten Tränen werden hart, und wie
    ein gläsernes Visier verbauen sie
    unter den Brau’n die ganze Augenhöhle. 1
     
    Er hatte die Verse aus der »Göttlichen Komödie« laut gesprochen und erschrak, wie dumpf und drohend sie klangen.
    In den neunten Kreis der Hölle, dorthin, wo selbst Luzifer, »der Kaiser des gequälten Schattenreiches ragte mit halber Brust über das Eis«, auf den untersten Grund der Hölle, stürzen die Seelen noch lebender Menschen. »Er isst und trinkt und kleidet sich.« Ja, genau das ist dieser Pornograph, der Kinder kauft und verkauft – ein lebender Toter.
    Das Telefonklingeln zerriss die Stille.
    »Hallo, guten Abend. Könnte ich bitte Boris Rodezki sprechen?«, fragte eine unbekannte Männerstimme.
    »Am Apparat.«
    »Entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Michail, ich bin der Onkel Ihrer Schülerin Shenja Katschalowa.«

Achtzehntes Kapitel
    »Vielleicht sollte ich am besten zu Ihnen nach Hause kommen.«
    Die Stimme von Shenjas Onkel klang so ruhig und angenehm, dass der alte Lehrer sofort Vertrauen zu ihm fasste. Zudem war der Anruf gerade im rechten Moment gekommen. Nun schien die Situation nicht mehr hoffnungslos, nun gab es einen vernünftigen Erwachsenen, einen nahen Verwandten, mit dem er reden, dem er zumindest einen Teil der Verantwortung für das Mädchen übertragen konnte.
    Soll ich ihm das Tagebuch geben? Oder lieber nicht? Sollte ich lieber noch einmal versuchen, mit Shenja zu reden?
    Er überlegte: Wenn Shenja tatsächlich entschlossen war, mit diesem Alptraum Schluss zu machen, sollte er das Tagebuch nicht dem Onkel geben. Was, wenn der überhaupt nichts wusste und mit dem Lehrer über etwas ganz anderes sprechen wollte? Über Nachhilfestunden zum Beispiel. Über Shenjas Leistungen und ihr häufiges Fehlen. Für ihn war Shenja womöglich eine ganz normale Fünfzehnjährige, die ohne Vater aufwuchs.
    Noch vor kurzem galt eine Schwangerschaft mit fünfzehn als Schande, als Katastrophe. Aber es gab offenkundig wesentlich Schlimmeres. Wahrscheinlich war es besser, wenn die Nachricht von Shenjas Schwangerschaft die größte Erschütterung für ihre Angehörigen und alles andere ungesagt blieb. Das Mädchen hatte beschlossen, ein neues Leben anzufangen. Gott sei Dank. Vielleicht schaffte sie es sogar, zu vergessen. Kinder hatten ein kurzes Gedächtnis, besonders für Schlimmes. Erfuhr aber die Familie davon, würde sie Shenja nicht so leicht vergessen lassen.
    Nein, ich gebe dieses Tagebuch niemandem außer Shenja, entschied Rodezki. Ich sage diesem Onkel nichts davon, wenn er nicht selber danach fragt.
    Der alte Lehrer legte die Hefte mit den korrigierten und noch nicht korrigierten Aufsätzen auf zwei Stapel und Shenjas Tagebuch in die Schreibtischschublade. Er schrak zusammen und klemmte sich schmerzhaft den Finger ein, als es an der Tür klingelte: Zweimal kurz, einmal lang.
     
    Vor dem Haupteingang der Fernsehstudios in Ostankino drängten sich aufgeregte, durchgefrorene Jugendliche. Sie standen offensichtlich schon lange hier, vielleicht seit dem Morgen, und warteten. Sie wollten an einem der üblichen Wettbewerbe teilnehmen, um singend oder tanzend eine Chance ergattern, ins Showgeschäft einzusteigen. Sie rochennach Bier, Zigarettenrauch, Kaugummi und Ozon. Die Atmosphäre um sie war elektrisch aufgeladen, man sah förmlich die Funken sprühen.
    Der Chauffeur blieb im Wagen sitzen. Olga musste sich allein einen Weg durch die Menge bahnen. Der Aufnahmeleiter erwartete sie drinnen, beim Milizposten. Genau in dem Moment, als sie durch die Glastür trat, wurde die nächste Bewerbergruppe hereingerufen. Sie stürmten los, Olga bekam ein paar Püffe ab. Direkt neben ihr fragte ein Mädchen keuchend: »Hör mal, Swetka, ist Katschalow wirklich nicht in der Jury?«
    »Nein. Weißt du nicht Bescheid? Seine Tochter wurde ermordet.«
    Zwei etwa vierzehnjährige Mädchen waren neben Doktor Filippowa in der Menge eingekeilt. Das Mädchen, das sich nach Katschalow

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