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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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aufschreiben?«
    »Ich merke sie mir.«
     
    Plötzlich brach ihm der Schweiß aus. Er sah das rosa Mobiltelefon in Shenjas Hand vor sich, den leuchtenden Display. Wie hatte er das übersehen können? An alles hatte er gedacht. Nur nicht an das Telefon! Sie hatte es in der Hand gehabt, als sie aus dem Auto stiegen.
    »Hier wohnt der Wächter, ich muss bei ihm den Schlüssel für das Haus holen.«
    »Aber hier ist Wald!«
    »Das ist der kürzeste Weg. Wirst gleich sehen. Komm.«
    »Nein danke, ich warte lieber im Auto. Es ist kalt.«
    Inzwischen war seine Spannung bereits auf dem Höhepunkt. Es kostete ihn enorme Anstrengung, sich nicht zu verraten und sie zum Aussteigen zu überreden. Eine falsche Geste, ein falsches Wort, und sie würde womöglich weglaufen, schreien oder ein vorbeifahrendes Auto anhalten.
    »Die Schäferhündin des Wächters hat gerade Welpen, sieben Stück, ganz süß. Ich möchte einen davon haben, aber ich kann mich für keinen entscheiden. Ich brauche deinen Rat.«
    Das funktionierte. Sie ging mit. Sie stiegen auf den Hügel, dann hinunter in die Niederung. Er hatte den Ort zuvor genau erkundet und wusste, dass man ihn von der Chaussee aus nicht einsehen und nichts hören konnte.
    Wahrscheinlich hat sie das Telefon fallen gelassen, als sie versuchte wegzulaufen. Ja, sie ist sogar losgelaufen und hat geschrien.
    Na und? Sie haben das Handy gefunden und sie dadurch rasch identifiziert. Aber der Letzte, mit dem sie telefoniert hat, war ihr Lehrer. Boris Rodezki. Ich habe ja die Liste der eingegangenen Anrufe gesehen. Es ist also alles bestens. Der Kreis hat sich geschlossen.
     
    »Sie schreibt nie das Datum hin, nur die Tageszeit. Nacht«, murmelte der alte Lehrer. »Wie oft ist mir aufgefallen, dass sie im Unterricht schlief? Ja, sie war ständig müde. Trotzdem hat sie sich hingesetzt und Tagebuch geschrieben. Ihrer Schrift sieht man an, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Das Leben dieses Kindes ist eine ewige Nacht, eiskalt, unbehaglich, bewohnt von fleischfressenden Ungeheuern, Kyborgs und Biorobotern. Zu wem wollte sie nur am Sonntagabend? Zu ihrem V. oder zu dem namenlosen Kyborg-Professor? Wer hat im Auto auf sie gewartet und ungeduldig gehupt, zweimal kurz, einmal lang?«
    Er sah plötzlich genau vor sich, wie Shenja eine Münze warf, wie sehr sie sich »Kopf« wünschte. Aber sie landete dreimal auf »Zahl«.
    Natürlich machte es ihr Angst, dass ihr Lehrer alles wusste und es womöglich allen erzählen würde. Das arme, arme Mädchen! Erst fünfzehn Jahre alt! Ein gewisser Nick, ein älterer Ausländer, schläft seit fast zwei Jahren mit ihr, für Geld. Und dieser V.? Er ist über vierzig und hat auch mit ihr geschlafen. Ist er etwa besser als die anderen, die sie dafür bezahlten? Aber sie liebt ihn, sie will das Kind von ihm zur Welt bringen. Er ist ihre erste Liebe. Natürlich malt sie sich ein Idealbild von ihm, er ist ihr Prinz. Wahrscheinlich ist er ein übler Bursche. Das Mädchen ist psychisch vollkommen kaputt, sie hat so viel Schreckliches, Krankhaftes erlebt. Und niemand steht ihr bei. Sie hat nur dieses Tagebuch.
    Wieder schmerzte Rodezkis Herz.
    Bloß jetzt kein Anfall, das fehlte noch. Ich muss mal zum Arzt, mit dem Herzen ist nicht zu spaßen. Und einen Brief an meinen Sohn schreiben. Ihm kann ich alles erzählen. Ich kann dieses schwarze Elend nicht für mich behalten. Dieser Mark ist noch schlimmer als die Kunden, die die Kinder missbrauchen. Die Pädophilen können sich noch irgendwie herausreden: Sie sind krank, ihrer schändlichen Leidenschaft hilflos ausgeliefert.
    In einem genialen Roman wird die Pädophilie ästhetisch gerechtfertigt. »Lolita« hat die Welt verändert. Wie viele Männer entdecken an sich etwas von Humbert, freudig oder mit Entsetzen, je nachdem? Wie viele Frauen, deren Kindheit von der Lüsternheit solcher Humberts vergiftet wurde, erkennen in dem zugrunde gerichteten Nymphchen sich selbst?
    Als Rodezki vor langer Zeit Nabokovs Roman zum ersten Mal las, erschrak er – vielleicht saß auch in ihm diese gräßliche, mörderische Leidenschaft? Vorher wäre ihm so etwas nie in den Sinn gekommen.
    Nach »Lolita« ertappte er sich dabei, dass er die Mädchen in der Schule auf einmal mit anderen Augen betrachtete. Die da ist ein Nymphchen, die da nicht. Na und? Jedes Mädchen, ob Nymphchen oder nicht, ist immer noch ein Kind. Es zu berühren oder auch nur lüstern zu betrachten ist schlimmer als zu töten.
    Sie kucken sich also

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