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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Kommen Sie bitte herein. Nein, nein, behalten Sie die Schuhe ruhig an.«
    Der Gast nickte und zog den Mantel aus. Rodezki bot ihm einen Sessel im Wohnzimmer an und setzte sich ihm gegenüber.
    »Wo haben sie ihn?«, fragte der Gast, noch immer lächelnd.
    »Wen?«
    »Ihren Wagen.«
    »Direkt unterm Fenster.«
    »Ach!« Der Gast stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. »Haben Sie keine Angst?«
    »Um meine alte Kiste? Es ist ein Shiguli.«
    Das Gespräch mit dem Fremden fiel ihm leicht, als würden sie sich schon lange kennen. Es war gut, dass er erst einmal über Nebensächliches redete, über Staus und Parkplatzprobleme.
    »Ich war lange nicht in Moskau, ich habe im Ausland gearbeitet und bin erst seit kurzem wieder hier, und nun kriegt man nirgends mehr einen Parkplatz. Früher war vor meinem Haus massenhaft Platz, aber heute ist alles zugeparkt, besonders abends. Übrigens – ich habe vor Ihrem Haus gar keinen Shiguli gesehen.«
    »Er steht auf der anderen Seite, auf der Straße, direkt unterm Balkon.« Rodezki stand auf und öffnete die Balkontür.
    Der Gast ging mit ihm hinaus und beugte sich über die Brüstung. Vom dritten Stock aus war das Auto im Licht einer Straßenlampe gut zu sehen.
    »Der Rote da?«
    »Nein, der Grüne.«
    »Hat er wenigstens eine Diebstahlsicherung?«
    »Die habe ich ausgebaut. Sie hat sich dauernd von selbst eingeschaltet und nächtelang geheult.« Rodezki fröstelte und schloss die Balkontür. »Es ist kalt, der Frühling lässt auf sich warten. Einen Tee vielleicht oder einen Kaffee?«
    »Danke. Zu einem Tee sage ich nicht nein.«
    Als Rodezki mit einem Tablett aus der Küche zurückkam, betrachtete der Gast die Fotos an der Wand.
    »Ihre Schüler?«
    »Ja.«
    »Vollkommen andere Gesichter.« Der Gast schüttelte den Kopf. »Die Schulabgänger der Siebziger und Achtziger sehen ganz anders aus als die heute. Finden Sie nicht?«
    »Doch, Sie haben recht, es sind verschiedene Generationen. Aber jede Generation hat ihr Gutes und ihr Schlechtes. Am schwersten hatten es die Schulabgänger Ende der Achtziger, als alles auf den Kopf gestellt wurde. Der Wert der Bildung sank rapide, die jungen Leute meinten, wozu noch lernen, wenn man als Verkäufer in einem Privatgeschäft mehr verdient als ein Professor?«
    »Ja, das war eine schlimme Zeit.« Der Gast seufzte und ließ sich in einem Sessel nieder. »Aber heute ist es nicht besser. In mancher Hinsicht sogar schlechter. Schuld daran sind wie immer die Erwachsenen, und die Kinder leiden darunter.«
    Rodezki schenkte Tee ein. Der Gast räusperte sich plötzlich nervös und leckte sich die Lippen.
    »Es ist furchtbar, wenn Kinder leiden. Das Leben ist manchmal schlimmer als der Tod. Schmutz, Gemeinheit und Verderben. Man muss die Kinder retten, solange sie noch klein sind, solange noch etwas Reines, Helles in ihnen ist.«
    Seine Stimme klang nun dumpf und heiser, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Seine Augen konnte Rodezki hinter den Brillengläsern nicht sehen, aber ihm schien, dass sie geschlossen waren und der Gast sich in einer Art Trance befand. Das wirkte seltsam, ja, ein wenig lächerlich.
    »Ist Ihnen nicht gut, Michail?«
    »Wie? Was?« Der Gast schüttelte sich und richtete sich auf. Seine Hände ruhten auf den Knien.
    »Sie wollten mit mir über Shenja sprechen«, erinnerte ihn der alte Lehrer sanft.
    »Verzeihen Sie. Ich bin aufgeregt. Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll.« Er räusperte sich noch einmal, dann klang seine Stimme wieder normal. »Wie gesagt, ich habe lange im Ausland gearbeitet. Nun bin ich wieder in Russland und musste erfahren, dass meine Nichte sich in einer katastrophalen Lage befindet. Bei den Verhältnissen, die in der Familie herrschen, kann Shenja weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater darüber reden.«
    Er runzelte die Stirn, wischte sich den Schweiß ab, griff nach dem Brillenbügel, als wollte er die Brille abnehmen, tat es jedoch nicht.
    »Trinken Sie Ihren Tee, regen Sie sich nicht so auf«, ermunterte ihn der alte Lehrer.
    »Sie haben gut reden – nicht aufregen. Haben Sie Kinder?«
    »Einen Sohn. Er ist erwachsen, lebt in Amerika.«
    »Ich habe niemanden außer Shenja. Ich bin natürlich selber schuld. Ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen. Während ich weg war, ist Shenja in eine furchtbare Situation geraten. Sie hat mir alles erzählt. Sie lässt sich in Kinderpornos filmen und bedient pädophile Kunden. Für Geld.«
    Der Gast senkte den Kopf und presste

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