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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Sie davon etwas ausführlicher erzählen?«, hörte sie Mischa fragen.
    »Bitte.« Olga bemühte sich zu sprechen wie ein Bauchredner, ohne die Lippen zu bewegen. »Marik stammt aus einer gebildeten Moskauer Familie. Achtzehn Jahre alt, seit dem vierzehnten Lebensjahr drogenabhängig. Ständig in Nachtklubs unterwegs. Schließlich Nervenzusammenbruch, Suizidversuch. Die ersten Tage hat er mich genervt mit Songs über Blut, Kot und Menschenleber. Ich glaube, er kannte das ganze Repertoire auswendig. Aber dann vergaß er alles und fiel in die Kindheit zurück, als würde er das Leben von neuem beginnen.«
    »Wie finden Sie die Texte?«
    »Widerlich. Ich dachte erst, Marik phantasiert in Reimen.«
    »Wie beurteilen Sie als Ärztin diese Texte? Halten Sie Vaselin für psychisch gesund?«
    »Aber Mischa, ich habe ihn noch nie gesehen. Wie kann ich da eine Diagnose wagen?«
    »Was meinen Sie, wäre ein Mensch, der auf derart höhnische, parodistische Weise raffinierte sadistische Morde beschreibt, selbst fähig zu töten? Seine Gedanken, seine Phantasien kreisen schließlich ständig darum. Könnten diese Phantasien nicht eines Tages Wirklichkeit werden?«
    »Theoretisch schon.« Olga öffnete endlich die Augen und erkannte sich im Spiegel nicht.
    Ein Vamp sah sie an. Der Maskenbildner hatte sich wirklich Mühe gegeben. Die Augen waren blauschwarz umrandet, der Rest war weiß, von unten zu den Wangenknochen, von oben bis zu den Augenbrauen, die ebenfalls weiß geschminkt waren und so gleichsam verschwanden. Ihre Lippen waren fleischig, blutrot und schwarz umrandet. Gekrönt wurde diese Pracht durch hochtoupierte Haare.
    »Sehr lebendig, finde ich«, sagte der Maskenbildner.
    Olga starrte eine Weile stumm in den Spiegel, dann fing sie an zu lachen. Die Tränen spritzten, und die blauschwarzen Lidschatten liefen über die weißen Wangen.
    Sie konnte nicht aufhören, griff nach einem Schminktuch und schnäuzte sich.
    »Was machen Sie da?« Der Maskenbildner stieß ihre Hand beiseite und wollte die Schäden reparieren.
    »Nein, nicht«, prustete Olga. »Ich möchte mich waschen.«
    Mischa, der längst fertig geschminkt war, rauchte und redete weiter.
    »Stellen wir uns einen Augenblick vor, Vaselin wäre der Mörder. Was halten Sie davon? Nein, nein, in der Sendung werde ich das natürlich nicht sagen, aber es wäre toll, wenn ich Ihren Patienten filmen dürfte, diesen Marik. Ich denke an eine Serie darüber, wie die moderne Unterhaltungsindustrie von Pop bis Internet die Menschen verrückt macht, besonders Jugendliche. Aber auch die Hausfrauen, die süchtig sind nach Serien und Talkshows, sind ja nicht ganz normal.«
    »Wie – waschen?«, fragte der Maskenbildner mühsam beherrscht.
    »So kann ich nicht vor die Kamera. Entschuldigen Sie.«
    »Sind Sie verrückt? Ich habe aus nichts ein Gesicht gemacht, aus absolut nichts!« Der Maskenbildner kreischte geradezu. »Sie zerstören meine Arbeit! Als ob Sie etwas davon verstehen würden!« Er rannte hinaus und knallte die Tür zu.
    »Kinder, in drei Minuten ist Aufnahme«, rief jemand.
    Olga wischte sich rasch die Schminke ab, puderte sich notdürftig und zog sich die Lippen nach.
    »Ja, viel besser.« Mischa stand auf und betrachtete sie wohlwollend. »Kommen Sie, es ist so weit. Ach ja, was ich noch sagen wollte: Erwähnen Sie die Kinderporno-Hypothese vorerst nicht. Shenja ist die Tochter von Katschalow, er ist ein bekannter Mann mit Beziehungen zu Banditen, Oligarchen und Politikern. Er könnte uns einen Anwalt auf den Hals schicken. Wir reden einfach allgemein über Serienmörder.«
     
    Vor Rodezki stand ein großer Mann in einem offenen hellen Mantel. Darunter trug er einen guten Anzug und Krawatte. In der Hand eine Aktentasche aus weichem schwarzem Leder. Dunkles, graumeliertes Bärtchen, Schnurrbart, getönteBrillengläser. Er keuchte ein wenig. Wahrscheinlich war er zu Fuß in den dritten Stock gelaufen. Ein angenehmes Lächeln, die großen Zähne blitzten weiß unter dem Schnurrbart hervor. Ein seriöser, anständiger Mann.
    »Guten Abend, entschuldigen Sie den Überfall. Ich fürchtete, mich zu verspäten, aber es gab keine Staus, darum bin ich eine halbe Stunde zu früh. Wenn man in Moskau mit dem Auto unterwegs ist, verschätzt man sich dauernd. Haben Sie einen Wagen?«
    »Ja, aber ich benutze ihn selten. Meine Schule ist ganz in der Nähe, da gehe ich lieber zu Fuß. Mit dem Auto fahre ich nur manchmal zur Datscha, aber seit dem Tod meiner Frau war ich kaum dort.

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