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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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betäubt, aber als sie mit der Polizei das Haus verließ, tat sie es mit großer Würde.« Er kam sich töricht vor, als er das sagte. Es war eine emotionale Regung, die ihn zu dieser Bemerkung veranlasst hatte, und es missfiel ihm, Rathbone eine Angriffsfläche geboten zu haben. Er wollte gerade etwas hinzufügen, um seine Worte abzumildern, aber Rathbone hatte sich bereits Hester zugewandt.
    »Kennen Sie diese Krankenschwester?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie, ohne zu zögern. »Und ich kenne John Robb. Ich habe auch einige der anderen Patienten aufgesucht, um die sie sich gekümmert hat. Ich kann und werde aussagen, dass die Medikamente für diese Menschen benutzt wurden und dass kein Entgelt, gleich welcher Art, gefordert wurde.«
    Rathbone verkniff sich die Bemerkung, dass das vor dem Gesetz ohne Belang sein würde. Das Mitgefühl der Geschworenen würde nichts an Cleo Andersons Schuld ändern und das Urteil deswegen nicht milder ausfallen. Außerdem – war es wirklich so viel schlimmer zu hängen, als ein ganzes Leben in den Coldbath Fields zu verbringen oder einem anderen Gefängnis dieser Art? Er ließ ein wenig Zeit verstreichen, während er über diese Frage nachdachte, und weder Monk noch Hester drängten ihn zum Sprechen.
    »Ich nehme an, sie ist mittellos, diese Krankenschwester?«, fragte Rathbone schließlich. »Und die Familie Stourbridge wird wohl kaum den Wunsch haben, ihre Verteidigung zu übernehmen.«
    Monk spürte, wie heißer Zorn in ihm aufwallte. Es war also alles eine Frage der Bezahlung!
    »Das heißt, sie hat wahrscheinlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch niemanden, der sie vor Gericht vertritt« , schlussfolgerte Rathbone. »Ich würde also nicht gegen das Berufsethos verstoßen, wenn ich ihr einen Besuch abstatte. Ich kann ihr zumindest meine Dienste anbieten und dann ist es ihre Entscheidung, mein Angebot anzunehmen oder abzulehnen.«
    »Und wer wird Sie bezahlen?«, fragte Monk mit hochgezogenen Augenbrauen.
    Rathbone sah ihn direkt an. »Ich habe in letzter Zeit genug verdient, um es mir leisten zu können, den Fall ohne Bezahlung zu übernehmen«, erwiderte er ruhig. »Ich denke, sie wird wohl auch kein Geld haben, um Sie zu bezahlen.«
    Monk schoss das Blut in die Wangen, aber er wusste, dass er diesen Seitenhieb verdient hatte.
    »Ich danke Ihnen«, sagte Hester eilig und erhob sich. »Cleo Anderson ist auf dem Polizeirevier von Hampstead in Gewahrsam.«
    Rathbone lächelte schalkhaft, als hätte sie einen sehr feinsinnigen Witz gemacht.
    »Danken Sie mir nicht«, sagte er leise. »Das Ganze klingt nach einer Herausforderung, der man sich nicht verschließen darf.«

9
    Oliver Rathbone blieb noch eine Weile in seinem Büro sitzen, nachdem Monk und Hester gegangen waren, wohl wissend, dass er eine übereilte Entscheidung getroffen hatte, was ihm gar nicht ähnlich sah. Er war ein Mann, der niemals handelte, ohne nachzudenken, was sicher Teil seines Erfolgs war und ihn zum brillantesten Strafverteidiger Londons gemacht hatte. Und vielleicht war diese Eigenschaft auch daran schuld, dass er zu spät um Hesters Hand angehalten hatte.
    Nein, das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er war schon im Begriff gewesen, sie zu fragen, aber sie hatte ihm sehr taktvoll zu verstehen gegeben, dass sie seinen Antrag nicht annehmen würde.
    Aber wenn er ehrlich war, konnte der Grund für ihre Ablehnung durchaus darin gelegen haben, dass sie seine Unsicherheit gespürt hatte. Monk hätte niemals zugelassen, dass der Kopf sein Herz beherrschte. Das war eine Eigenschaft, die Rathbone an ihm zugleich bewunderte und verachtete. Es gab ein dunkles Element in Monks Charakter, etwas Ungezügeltes.
    Und doch war er mit Hester zu ihm gekommen, um ihn zu überreden, die Verteidigung in einem Fall zu übernehmen, der ziemlich hoffnungslos aussah. Das konnte Monk nicht leicht gefallen sein. Rathbone lehnte sich weit auf seinem Stuhl zurück und lächelte, als er sich an den Ausdruck auf Hesters Gesicht erinnerte, an ihre aufrechte Haltung. Er konnte sich gut vorstellen, was in ihr vorgegangen war. Monk war um Hesters willen zu Rathbone gekommen, und er wusste, dass Rathbone es ebenfalls wusste.
    Es überraschte ihn, wie groß der Schmerz war, den das Wiedersehen mit Hester ihm bereitete, wie weh es tat, die Leidenschaft in ihrer Stimme zu hören, als sie von Cleo Anderson und dem alten John Robb sprach. Das war so typisch für sie, Mitleid, Zorn und Mut waren die charakteristischen Eigenschaften dieser Frau.

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