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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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entwendet, glaube aber nicht, dass sie Treadwell ermordet hat, obwohl dieser sie erpresste. Meiner Meinung nach muss es noch etwas geben, das von großer Bedeutung ist und das wir bisher nicht in unsere Überlegungen mit einbezogen haben, und ich werde versuchen herauszufinden, was das ist.«
    »Sind Sie deshalb gekommen, um mit Michael zu sprechen?«
    »Ja.«
    »Dann sollten Sie das auch tun. Ich kann auf mein Abendessen warten.« Er wandte sich an seinen Enkel. »Und du, hilf diesem Herrn. Wir können später essen.«
    »Ich danke Ihnen«, antwortete Rathbone mit einer kleinen Verbeugung. »Aber es wäre mir lieber, wenn Sie einfach in Ihrer Tätigkeit fortfahren würden. Ich bin an der Straßenecke ungefähr hundert Meter von hier an einem Pastetenverkäufer vorbeigekommen. Würden Sie mir gestatten, für jeden von uns eine Pastete zu holen, sodass wir gemeinsam essen und gleichzeitig die Angelegenheit besprechen könnten?«
    Michael zögerte nur einen Augenblick, aber als er sah, wie die Miene des alten Mannes sich bei der Aussicht auf eine Pastete aufhellte, nahm er Rathbones Angebot an.
    Rathbone kehrte mit den drei besten Pasteten zurück, die er hatte bekommen können. Sie aßen zusammen und tranken dazu etliche Becher Bier. Michael war der für diesen Fall verantwortliche Polizeibeamte, und es war seine Pflicht, Beweise zusammenzutragen und sie dem Gericht vorzulegen. Aber er schien genauso wie sein Großvater darauf erpicht zu sein, mildernde Umstände für Cleo Anderson zu erwirken.
    Der alte John Robb war von einem fest überzeugt: Wenn Cleo Treadwell getötet hatte, musste dieser es wahrhaftig verdient haben, und wenn das Gesetz sie verurteilte, so befand das Gesetz sich im Irrtum und sollte geändert werden.
    Michael versuchte nicht, mit ihm zu streiten. Sein Bestreben, dem alten Mann weiteren Schmerz zu ersparen, war so offensichtlich, dass es Rathbone tief berührte.
    Trotzdem hatte Rathbone, als er bei Einbruch der Dämmerung aufbrach, nichts erfahren, das ihm weiterhelfen würde. Alles bestätigte lediglich das, was er bereits von Hester wusste. Er ging mit schnellen Schritten durch die warme Abendluft und nahm die Gerüche des Tages in sich auf. In der Ferne hörte man eine Drehorgel, die ein bekanntes Lied spielte, und Kinder, die einander zuriefen.
    Er hielt den ersten Hansom an, der an ihm vorüberkam, und gab dem Fahrer seine Adresse. Dann änderte er seine Meinung und ließ ihn stattdessen zum Haus seines Vaters in Primrose Hill fahren.
    Es war fast dunkel, als er dort eintraf. Mit einem Gefühl freudiger Erwartung ging er den vertrauten Weg entlang, obwohl er nicht wusste, ob sein Vater zu Hause war oder sein Besuch gelegen kam.
    Der süße Duft des frisch gemähten Grases stieg ihm in die Nase; als er um das Haus herum und quer über den Rasen auf die Gartentür zuging, sah er, dass im Arbeitszimmer Licht brannte. Henry Rathbone hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen, und Oliver konnte ihn im Sessel sitzen sehen.
    Henry las und hörte weder die leisen Schritte, noch nahm er den Schatten der sich nähernden Gestalt wahr. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und sog an seiner Pfeife, obwohl diese wie gewöhnlich erloschen war.
    Oliver klopfte an die Glasscheibe.
    Henry hob den Kopf, und als er seinen Sohn erkannte , leuchteten seine Augen auf, und er winkte ihn herein.
    Ein Gefühl von Vertrautheit und Zuneigung stellte sich ein, und ein Teil seiner Hilflosigkeit fiel von ihm ab, obwohl er mit seinem Vater über das Problem noch nicht einmal gesprochen hatte. Er setzte sich in den wuchtigen Sessel seinem Vater gegenüber und lehnte sich behaglich zurück.
    Ein paar Sekunden verstrichen, in denen sie beide schwiegen. Henry zog weiter an seiner kalten Pfeife. Draußen hörten sie einen Nachtvogel rufen, und die Zweige des Geißblatts mit ihren trompetenförmigen Blüten wiegten sich in der lauen Brise. Eine Motte schlug gegen die Fensterscheibe.
    »Ich habe einen neuen Fall«, begann Oliver schließlich. »Ich kann den Prozess unmöglich gewinnen.«
    Henry nahm die Pfeife aus dem Mund. »Dann musst du einen guten Grund gehabt haben, ihn zu übernehmen… oder zumindest einen Grund, der dir zu der Zeit gut erschien.«
    »Ich denke nicht, dass es ein guter Grund war«, erwiderte Oliver. Er hatte von Henry Exaktheit gelernt, und er beschönigte die Dinge seinem Vater gegenüber nie. Dies war eine der Grundlagen ihrer Freundschaft. »Es war ein zwingender Grund. Das ist

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