In feinen Kreisen
ein, die die Geschworenen davon überzeugen könnten, vor allem angesichts Miriams hartnäckigem Leugnen«, sagte er, ohne Hester aus den Augen zu lassen. »Und sie wollte es mich nicht einmal versuchen lassen. Ich habe versprochen, auf keinen Fall ihren Wünschen zuwider zu handeln.«
Ein Lächeln umspielte Hesters Lippen und war im nächsten Moment wieder verflogen. »Das habe ich mir gedacht. Es wäre mir lieb, wenn Sie Miriam verteidigen würden, aber die größeren Sorgen mache ich mir um Cleo Andersen. Ich hoffe, dass sie Treadwell nicht getötet hat, aber Mrs. Stourbridge kann sie nicht getötet haben. Ich bin mir absolut sicher, dass sie nicht zusammen mit Miriam ein Komplott geschmiedet hat, damit diese Lucius oder sonst einen Mann um seines Geldes willen heiratet.«
»Selbst wenn es für eine gute Sache wäre?«, fragte er sanft.
»Es gäbe keine »gute Sache«, für die sie so etwas tun würde! Der bloße Gedanke wäre ihr schon zuwider. Sie liebt Miriam. Welche Frau würde ihre Tochter des Geldes wegen verheiraten?«
»Meine liebe Hester! Das ist eines der häufigsten Dinge, die Menschen tun! Eltern haben ihre Töchter schon immer gegen ihren Willen verheiratet und geglaubt, damit allen Beteiligten einen Dienst zu erweisen – seit Menschengedenken.«
»Cleo würde niemals ihre Tochter verkaufen und gewiss würde sie niemanden deshalb töten«, sagte sie ein wenig spitz.
Er glaubte es zwar auch nicht, aber letzten Endes zählte nur das, was die Geschworenen glaubten, und er wies sie darauf hin.
»Ich weiß«, sagte sie und starrte zu Boden. »Aber wir müssen etwas tun. Ich weigere mich, mich hinter den Spitzfindigkeiten des Gesetzes zu verschanzen und so zu tun, als sei das eine Entschuldigung, nicht kämpfen zu müssen.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, aber es lag keine Freude darin, nur Ironie. »Mord ist keine Spitzfindigkeit des Gesetzes, meine Liebe.«
Sie sah ihn offen an, und in ihren Augen entdeckte er die alte Freundschaft, die sie miteinander verband. Er zwang sich, sich auf das Gesetz zu konzentrieren und auf Cleo Anderson.
»Wie viele Medikamente fehlen und worum genau handelt es sich?«
Sie sah ihn entschuldigend an. »Das wissen wir nicht, aber es ist auf alle Fälle sehr viel – alle paar Tage ein Gramm, denke ich. Ich kann keine präzisen Angaben machen und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht wollen. Auch Ihnen ist es sicher lieber, es nicht so genau zu wissen.«
»Vielleicht haben Sie Recht«, gab er zu. »Ich werde Sie nicht noch einmal danach fragen. Wenn der Fall vor Gericht verhandelt wird, wer wird dann voraussichtlich eine Aussage bezüglich der Diebstähle machen?«
»Nur Fermin Thorpe, und zwar bereitwillig – oder auch notgedrungen, um die Anklage zu stützen«, räumte sie ein. »Es wird ihm zutiefst zuwider sein, zugeben zu müssen, dass aus seinem Krankenhaus Medikamente verschwunden sind. Es wird ihm nicht leicht fallen, damit umzugehen: Soll er das Ganze möglichst herunterspielen und damit riskieren, dass man ihn verdächtigt, die Diebstähle vertuschen zu wollen, oder soll er sie verurteilen und sich demonstrativ auf die Seite von Recht und Ordnung stellen? So oder so, er wird außer sich vor Zorn sein, dass man ihn überhaupt in die Geschichte hineinzieht.«
»Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass er sein Personal verteidigt?«
Der Ausdruck ihres Gesichts sagte alles.
»Ich verstehe«, meinte er nachdenklich. »Und was ist mit dem Apotheker?«
»Phillips? Er wird vertuschen, was er kann – selbst wenn er damit seine eigene Sicherheit gefährdet, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt.«
»Aha. Ich würde gern noch mit einigen anderen Krankenschwestern sprechen, wenn sich das einrichten ließe, und vielleicht mit Mr. Phillips. Dann werde ich Sergeant Robb einen Besuch abstatten.«
Es war bereits früher Abend, als Rathbone sich einen genauen Überblick über die Abläufe im Krankenhaus verschafft hatte und zu der Schlussfolgerung kam, dass beträchtliche Überlegung und einiges Geschick sowie Nervenkraft dazugehörten, regelmäßig Medikamente zu entwenden. Der Apotheker war sehr sorgfältig, trotz seines unordentlichen Aussehens und seines sich bisweilen Bahn brechenden Sinns für Absurditäten. Bessere Gelegenheiten boten sich, wenn ein jüngerer Arzt in Eile und dann vielleicht ein wenig unvorsichtig war. Rathbone kam zu dem Schluss, dass Phillips höchstwahrscheinlich genau über Cleos Handeln Bescheid wusste und warum sie
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