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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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von Frieden und Gebet einen Platz. Florence Nightingale war ebenso eine Kämpferin wie jeder Soldat und obendrein eine bessere Taktikerin – gewiss besser als die meist inkompetenten Generäle, die ihre Männer in das Gemetzel dieses Krieges geführt hatten. Außerdem war sie launisch, gefühlsbetont und eine Hypochonderin; sie besaß Leidenschaft und Mut und war ein äußerst widersprüchlicher Mensch. Callandra war sich nicht ganz sicher, ob Hester begriff, was für eine schwierige Frau Miss Nightingale in Wirklichkeit war. Ihre Loyalität machte sie bisweilen blind. Aber auch das war eine von Hesters Eigenschaften, für die sie beide in der Vergangenheit mehr als dankbar gewesen waren.
    Kristian sah sie fragend an. Er wusste nur wenig über das, was auf der Krim wirklich stattgefunden hatte. Er stammte aus Prag im österreichischen Böhmen. Man konnte noch immer den leichten Akzent hören, wenn er sprach, obwohl er ansonsten einem Engländer in nichts nachstand. Er war ein Mann, der sich mit Haut und Haaren seinem Beruf verschrieben hatte. Den Patienten, die er gerade behandelte, galt sein ganzes Streben und Trachten: der Frau mit dem komplizierten Beinbruch, dem alten Mann mit der Geschwulst im Kiefer, dem Jungen, dem der Tritt eines Pferdes die Schulter gebrochen hatte, und dem alten Mann mit den Nierensteinen, einem überaus quälenden Leiden.
    Und immer wieder dankte er Gott für die wunderbaren neuen Mittel, die es erlaubten, Patienten während der Operation zu betäuben. Das bedeutete, dass Schnelligkeit nicht länger das Wichtigste war. Man hatte mehr Zeit für die Durchführung einer Operation. Man konnte sorgfältiger arbeiten und sogar verschiedene Alternativen erwägen, konnte nachdenken und genau hinsehen, statt sich die ganze Zeit über nur Gedanken über den furchtbaren Schmerz des Patienten zu machen und danach zu streben, ihn so schnell wie möglich zu beenden.
    »Oh, es geht ihr sehr gut!«, erklärte Callandra, die ihre Gedanken wieder auf Florence Nightingale lenkte. »Alles, was sie empfiehlt, sollte getan werden, und einige dieser Dinge würden überhaupt nichts kosten – es setzt nur einen Gesinnungswandel voraus.«
    »Was für so manchen das Schwierigste von allem sein dürfte«, antwortete Kristian mit einem schiefen Lächeln. »Ich denke, Mr. Thorpe ist so einer. Ich fürchte, er würde eher brechen als sich biegen lassen.«
    Sie spürte, dass es da eine Schwierigkeit gab, von der er noch nicht gesprochen hatte. »Was bringt Sie auf diesen Gedanken?«, fragte sie.
    Obwohl sie sehr langsam gegangen waren, hatten sie jetzt das Ende des Korridors und damit die Räume der Chirurgen erreicht. Er öffnete eine Tür und hielt sie ihr auf, als zwei Medizinstudenten, ganz in ihr Gespräch vertieft, an ihnen vorbeigingen. Sie nickten Kristian devot zu, während sie für Callandra kaum einen Blick übrig hatten.
    Sie traten in den Warteraum. Es saßen bereits ein halbes Dutzend Patienten dort. Er lächelte ihnen freundlich zu und ging dann mit Callandra in sein Sprechzimmer. Als sie dort angelangt waren, beantwortete er ihre Frage.
    »Wenn er einen Vorschlag annehmen soll, muss dieser von jemandem kommen, den er als ebenbürtig betrachtet«, bemerkte er mit einem leichten Achselzucken.
    Kristian Beck war Thorpe in jeder Weise, sei es intellektuell oder moralisch, überlegen, aber es wäre sinnlos gewesen, diesen Gedanken auszusprechen, sinnlos und peinlich und viel zu persönlich; denn es hätte ihre eigenen Gefühle verraten, die nie ein Thema zwischen ihnen gewesen waren. Es verband sie tiefes Vertrauen, eine große Übereinstimmung in Bezug auf das, was nützlich ist, sowie ein großes Engagement für das Gute. Sie würde in diesen Dingen nie einen besseren Freund haben, nicht einmal Hester. Aber der persönliche Bereich war etwas ganz anderes. Sie liebte ihn mehr, als sie jemals einen Menschen geliebt hatte, selbst ihren Mann, als dieser noch lebte. Er hatte ihr gewiss viel bedeutet und es war eine gute Ehe gewesen, aber mit Kristian Beck verband sie ein geistiger Hunger, der ganz neu für sie war.
    Sie wusste nicht, ob er für sie mehr empfand als nur Freundschaft, die sich entwickelte, wenn man mit einem Menschen Seite an Seite harte Zeiten durchgestanden hat. Sie waren bis an die Grenzen der Erschöpfung gegangen, als sie im Hospital in Limehouse gemeinsam gegen die Typhusepidemie angekämpft hatten. Endlos waren jene Tage und Nächte gewesen, in denen sie die betrauerten, um deren Leben sie

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