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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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so sehr gerungen hatten. Aber es gab auch die Freude darüber , wenn jemand dem Tod entgangen war. Und natürlich schwebte ständig das Damoklesschwert der Ansteckung über ihnen. Sie waren selbst nicht gefeit gegen die Krankheit, dafür war Enid Ravensbrook das schreckliche Beispiel gewesen!
    Kristian wartete auf ihre Antwort. Er stand im Licht der Sonne, die durch die hohen Fenster auf den abgetretenen Holzfußboden fiel. Die Zeit war knapp wie immer. Draußen warteten Menschen – verängstigte kranke Menschen, die ihre Hilfe benötigten. Aber sie brauchten auch jemanden, der sie nach der Operation angemessen versorgte. Ihr Überleben konnte von so einfachen Dingen wie der guten Belüftung der Station abhängen, von der Sauberkeit der Verbände oder der Aufmerksamkeit der Krankenschwester, die über sie wachte.
    »Ich wünschte, er wäre nicht so ein Narr!«, sagte Callandra mit plötzlichem Ärger. »Es spielt doch überhaupt keine Rolle, wer man ist, es zählt nur, ob man Recht hat! Wovor hat er solche Angst?«
    »Vor Veränderung«, erwiderte Kristian leise. »Vor Machtverlust, vor der Unfähigkeit, etwas nicht zu begreifen.« Er machte keine Anstalten, die Papiere auf seinem Schreibtisch durchzusehen, dieses oder jenes zu ordnen oder die Instrumente zu überprüfen. Er besaß die Fähigkeit zur Ruhe. Sie dachte wieder einmal darüber nach, wie wenig sie über sein Leben außerhalb der Hospitalmauern wusste. Sie hatte ungefähr eine Ahnung, wo er lebte, aber seine genaue Adresse kannte sie nicht. Sie wusste von seiner Frau, obwohl er nur selten von ihr sprach. Weshalb nicht?
    War seine Verschwiegenheit darauf zurückzuführen, dass er über ihre Gefühle im Bilde war und sie nicht verletzen wollte? Die Hitze, die ihr in die Wangen schoss, schien sie förmlich zu verbrennen!
    Oder war er unglücklich, erfüllt von einem Schmerz, an den er nicht rühren und den er erst recht mit niemandem teilen wollte? Und würde sie es überhaupt wissen wollen?
    Wünschte sie sich denn, er möge ihr sagen, dass er sie liebte? Damit würden sie vielleicht für immer die unbefangene Freundschaft verlieren, die sie jetzt verband. Und was würde an Stelle dieser Freundschaft treten? Eine Liebe, die durch die Existenz seiner Frau für alle Zeit unterdrückt werden musste? Und wünschte sie sich überhaupt, dass er seine Ehe verriet? Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, wusste sie, dass ein solches Handeln den Mann, für den sie ihn hielt, zerstören würde.
    Keine Worte hätten in ihren Ohren süßer klingen können als seine Liebesschwüre. Und keine Worte hätten gefährlicher, bedrohlicher sein können für das tiefe Vertrauen, das sie jetzt miteinander verband.
    War es feige, dass sie ihn dann im Stich ließ, wenn er sie und ihr Verständnis am meisten brauchte, oder lediglich diskret, in einer Zeit, in der ihr Schweigen für ihn das Wichtigste sein musste?
    Oder wollte er einfach nicht mehr als ihre Freundschaft? Er besaß eine Ehefrau, – vielleicht war alles, was er hier im Krankenhaus brauchte, ein Verbündeter.
    »Es verschwinden nach wie vor Medikamente«, sagte sie und wechselte damit das Thema.
    Er holte laut und vernehmlich Luft. »Haben Sie Thorpe davon erzählt?«
    »Nein!« Es war das Letzte, was sie beabsichtigte. »Nein«, wiederholte sie ruhiger. »Es ist fast sicher, dass eine der Krankenschwestern sie entwendet. Ich möchte die Schuldige lieber selbst ermitteln und der Sache einen Riegel vorschieben, bevor Thorpe auch nur das Geringste davon erfährt.«
    Kristian runzelte die Stirn. »Welche Medikamente werden gestohlen?«
    »Alle möglichen, aber insbesondere Morphium, Chinin, Laudanum, holländisches Öl und verschiedene Quecksilberpräparate.«
    Er blickte bekümmert auf sie hinab. »Das hört sich so an, als würde sie sie verkaufen. Holländisches Öl ist eines der besten Mittel zur örtlichen Betäubung, die ich kenne. Niemand könnte nach all diesen Dingen gleichzeitig süchtig sein oder sie für sich selbst benötigen.« Er machte einen Schritt zur Tür. »Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Haben Sie eine Ahnung, wer die Frau sein könnte?«
    »Nein«, sagte sie unglücklich. Sie hatte sich den Kopf über diese Frage zermartert, aber sie kannte kaum die Namen aller Frauen, die im Krankenhaus arbeiteten, die für Sauberkeit und Wärme sorgten, die für die Wäsche zuständig waren und die Verbände aufrollten. Über das Privatleben oder den Charakter dieser Frauen wusste sie

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