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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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überhaupt nichts. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Bemühen, deren allgemeine Situation zu verbessern.
    »Haben Sie mit Hester darüber gesprochen?«, fragte er. Ihre Hand lag bereits auf dem Türknauf.
    »Ich glaube, dass sie auch nichts weiß«, erwiderte sie.
    Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Vergessen Sie nicht, dass sie eine ziemlich gute Detektivin ist«, bemerkte er.
    Callandra brauchte Hester nicht zu sagen, dass Medikamente verschwanden; sie hatte dies selbst bereits mit Bekümmerung festgestellt. Die Vorgänge in der Apotheke waren jedoch nicht ihr größtes Problem, als sie Callandra und Kristian allein ließ und sich auf den Weg zum Wartezimmer der nicht chirurgisch tätigen Ärzte machte. Es erzürnte sie, dass Fermin Thorpe ihr geraten hatte, den Kranken Trost und den Krankenschwestern moralische Unterstützung angedeihen zu lassen, obwohl sie beides für wichtig hielt und beides zu tun gedachte. Ihr Zorn galt nicht den Aufgaben an sich, sondern der Beschränkung darauf.
    Sie ging an einer der Krankenschwestern vorbei, einer Frau von fast fünfzig Jahren mit freundlichem Gesicht und graubraunem Haar, das sich genau wie bei Callandra stets aus seinen Nadeln zu lösen pflegte. Wäre die Herkunft der beiden Frauen nicht so unterschiedlich gewesen, wäre ihre Ähnlichkeit vielleicht deutlicher zu Tage getreten. Diese Krankenschwester konnte kaum lesen und schreiben – nicht viel mehr als ihren Namen und einige wenige vertraute Worte, die ihren Beruf betrafen –, aber sie war intelligent und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Hester hatte häufig beobachtet, dass sie sich auch um die Patienten kümmerte, wenn keine Ärzte in der Nähe waren. Sie schien ein natürliches Talent zur Krankenpflege zu besitzen, ein instinktives Wissen, wie man Schmerzen linderte oder Fieber senkte und was jemand bei einer bestimmten Krankheit essen oder lieber nicht essen sollte. Ihr Vorname war Cleo, den Nachnamen kannte Hester nicht.
    Als Hester nun an ihr vorbeiging, senkte sie den Blick, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie tat Hester Leid, und sie hätte der Frau gern ein wenig Mut gemacht.
    Im Warteraum saßen bereits Patienten, fünf Frauen und zwei Männer. Alle bis auf eine Ausnahme waren ältere Leute, die ängstlich vor dem, was sie erwartete, die ungewohnte Umgebung musterten. Ihre Kleider waren abgetragen und nur hier und da blitzte unter einem dünnen Mantel ein sauberes Hemd hervor.
    Ein Teil ihrer Behandlung war kostenlos, aber sie mussten immer noch für das Essen aufkommen, das sie im Krankenhaus verzehrten, und für die Medikamente, wenn sie wieder nach Hause gingen und die Heilung noch nicht abgeschlossen war.
    Sie ging auf denjenigen der Patienten zu, der den erbärmlichsten Eindruck machte.
    Er blickte mit angstvollen Augen zu ihr auf. Ihre ganze Haltung strahlte Autorität aus, und er glaubte, dass sie ihn für irgendetwas zurechtweisen würde, auch wenn er nicht wusste, was das hätte sein können.
    »Wie heißen Sie?«, fragte sie mit einem Lächeln. Er schluckte. »Harry Jackson, Ma’am.«
    »Sind Sie heute zum ersten Mal hier, Mr. Jackson?« Hester sprach so leise, dass nur diejenigen, die direkt neben ihm saßen, ihr Gespräch erfolgen konnten.
    »Ja, Ma’am«, murmelte er mit abgewandtem Blick. »Ich wollt ja nicht kommen, aber was unsere Lil ist, die meinte, ich muss. Macht immer so ‘n Wirbel, die Lil. Aber sie ist ein gutes Mädchen, wirklich. Meint, sie würden das Geld irgendwie schon aufbringen.« Er hob den Kopf, und jetzt lag eine Spur von Trotz in seiner Haltung. »Und Sie werden sehen, Ma’am, sie schafft’s auch. Sie kriegen Ihr Geld, keine Bange!«
    »Da bin ich mir sicher«, pflichtete sie ihm bei. »Aber es ist nicht das Geld, um das ich mir Sorgen mache.«
    Ein Krampf befiel ihn, und einen Augenblick lang musste er um Atem ringen. Sie brauchte Mr. Thorpes medizinische Ausbildung nicht, um das Zerstörungswerk der Krankheit in dem ausgezehrten Leib des alten Mannes zu erkennen. Er litt an Tuberkulose, und so wie er sich die Hand auf die Brust presste, hatte er obendrein eine Rippenfellentzündung. Er sah so aus, als sei er weit über sechzig, aber er konnte auch nur fünfzig sein. Der Arzt würde wenig für ihn tun können. Er brauchte Ruhe, nahrhaftes Essen, saubere Luft und jemanden, der ihn pflegte. Morphium würde die Schmerzen lindern, und mit Wasser verdünnter Sherry wäre ein hervorragendes Stärkungsmittel. Seine Kleider und vor allem sein Benehmen

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