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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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stickig und roch nach gekochtem Kohl. Beth versuchte abermals, sich von ihm zu lösen, und obwohl sie keinen Erfolg hatte, konnte sie doch einen Blick auf sich selbst erhaschen. Sie war plötzlich fett und trug ein langes, formloses schwarzes Kleid, und ihr Haar war grau. Und dann verstand sie, was er da flüsterte.
    » Oh, Mommy, Mommy«, keuchte er ihr heiß auf die Kehle. » Oh, Mommy, Mommy, Mommy.«
    Aber erst als sie begriff, dass er krampfhaft sein wohlgepolstertes Becken an ihr rieb, musste sie sich übergeben.
    Weniger als eine halbe Minute später schritt Leo Friend in der Morgensonne mit rotem Gesicht auf dem Poopdeck auf und ab.
    Aus Fehlern, sagte er sich, während er mit einem Seidentaschentuch den Fleck auf seiner Rüschenbluse abtupfte, muss man lernen. Und dieser Zwischenfall gerade eben in der Kajüte sollte ihn gewiss etwas gelehrt haben. Er musste einfach warten – nur noch ein klein wenig länger, nur bis er genug Ruhe und Frieden fand, um etwas aus der Magie zusammenzubrauen, die ihm jetzt gegeben war.
    Und dann, dachte er, während er zu der Kajütentür zurückschaute, die er gerade wieder von außen verriegelt hatte, dann werden wir sehen, wer wessen Aufmerksamkeiten abwehren muss. Er holte tief Luft, stieß den Atem aus und nickte entschieden. Dann sah er sich auf dem Schiff um, das er aus der Carmichael gemacht hatte, und nachdem er seine neue Besatzung gemustert hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie lange nicht mehr so lebendig aussah, wie er sie vor einigen Stunden frisch heraufbeschworen hatte. Die Männer wirkten bleicher und aufgedunsener, und sie legten immer wieder den Kopf schräg, als lauschten sie auf etwas, und schauten sich mit Mienen um, die selbst auf ihren toten Gesichtern als ängstlich zu erkennen waren.
    » Was ist los?«, fuhr er eine der Gestalten an, die am Ruder stand. » Hast du Angst vor Schwarzbart? Hast du Angst, dass er kommen und dir ein Entermesser in deine kalten Eingeweide rammen wird? Oder vor Hurwood, dass er hinter uns herkommt wegen seiner gottverd-d-d-dammten Tochter? Ich habe mehr Macht als jeder der beiden, keine Sorge.«
    Das Ding, zu dem er gesprochen hatte, schien ihn nicht zu hören und drehte nur immer wieder seinen perlgrauen Kopf – so weit, dass der Hals zu reißen begann –, um über das Heck nach achtern zu spähen. Aus seiner nutzlosen Kehle drang ein schwaches Zischen, dass ein Wimmern gewesen sein mochte.
    Gereizt, denn die augenscheinliche Furcht seiner Mannschaft hatte begonnen, ihn trotz seines Selbstbewusstseins und des Optimismus, den ein sonniger Tag mit sich bringt, zu infizieren, stieg Friend die Kajütenleiter zum zweiten Poopdeck hoch – das Schweben war ihm noch eine zu neue und ungeübte Fertigkeit – und hielt über die Heckreling Ausschau.
    Zuerst hielt er das Schiff, das sie verfolgte, für Schwarzbarts Queen Anne’s Revenge, und seine dicken Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln – das einen Moment später wieder verschwand, als er begriff, dass dies kein Schiff war, welches er je zuvor gesehen hatte. Es war, wie er nun sah, breiter gebaut und am Bug rot und weiß gestrichen … und kam es nicht schrecklich schnell näher? Kam der Bug bei den meisten Schiffen nicht mal mehr, mal weniger aus dem Wasser, wenn sie gute Fahrt machten, und spritzte nicht Gischt zu den Seiten hoch?
    Er ging zur vorderen Reling, von der aus er alle anderen Decks überblicken konnte. Zumindest für den Augenblick hatte sein Schiff aufgehört, seine Form zu ändern, und es gab keine Masten oder Decks, die von einer Sekunde auf die andere ihre Meinung änderten, ob sie da sein oder verschwinden sollten.
    Wahrscheinlich war jetzt sogar dieses Fenster in … der Kajüte … entweder einfach da oder nur nicht da.
    » Schneller!«, rief Friend seiner nekrotischen Mannschaft zu. Mehrere graue Gestalten enterten die Masten auf. » Mehr Fahrt!«, schrie er gellend. » Kein Wunder, dass die verdammte Charlotte Bailey gesunken ist, wenn ihr sie so gesegelt habt!«
    Er schaute zurück zu dem Schiff, das sie verfolgte, und fragte sich, ob er sich nur einbildete, dass es inzwischen noch näher herangekommen war. Er war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht irrte. Er pflanzte die Füße fest aufs Deck, griff in die neuen Bereiche seines Geistes und zeigte mit einem Wurstfinger auf das fremde Schiff. » Verschwinde«, sagte er gepresst.
    Sofort brach aus einem breiten Streifen der See Dampf hervor, der in einer weißen, scharf abgegrenzten

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