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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Pistole, und Shandy schrie: » In diesem Kampf gibt es auch ohne Freiwillige genug Geister! Unser einziger lebender Gegner ist der fette Knabe – wollt ihr ihn mit eurem Schiff davonkommen lassen?«
    Shandys Worte und – noch effektiver – Davies’ Pistole bereiteten dem Ansturm ein Ende. Die Piraten zauderten und vertuschten ihre Unsicherheit, indem sie ihre Flüche, Drohungen und obszönen Gesten verdoppelten.
    Davies schoss in die Luft, und in der darauf folgenden relativen Stille brüllte er: » Der Spanier ist ein Geist, das gebe ich zu – aber die Nuestra Señora lenkt den fetten Jungen ab. Er hat uns inzwischen gesehen – also greifen wir an und treffen ihn, während er beschäftigt ist, oder warten wir darauf, dass er sich uns in Muße vornimmt?«
    Widerwillig drehten die Piraten sich um und kämpften sich im orkanartigen Gegenwind zurück auf ihre Posten. Sie hatten zuvor nur ein Segel gesetzt, das kleine Topsegel, und ehe sie auch nur anfangen konnten, es wieder einzuholen, zerriss es unter dem Winddruck in hundert flatternde Bänder, die dem vorwärts schießenden Schiff ein Aussehen schäbiger Festlichkeit verliehen, aber seine Fahrt nicht verlangsamten.
    Die Jenny, die jetzt beinahe über die Wellen sprang, jagte in die schmale Lücke zwischen den beiden Schiffen.
    » Alle Backbordkanonen Feuer!«, donnerte Davies in den Wind. » Und dann die Ruderpinne nach Backbord!«
    Die sieben Backbordgeschütze der Jenny krachten, und dann legte ihr Rückstoß die Schaluppe weit nach Steuerbord über, und Shandy hielt sich an der Reling fest und blinzelte in die Gischt der Wellen, die nur wenige Fingerbreit unter ihm vorbeischossen. Als die Schaluppe sich wieder aufgerichtet hatte, reckte er den Hals, um zu sehen, wie sie die de Lagrimas getroffen hatten.
    Sie war offensichtlich in Schwierigkeiten. Der dicke Großmast war auf mittlerer Höhe abgebrochen, und der größte Teil ihres Riggs diente jetzt dazu, das Schiff an den unförmigen Seeanker zu fesseln, zu dem der Masttop geworden war. Shandy fluchte leise und voller Ehrfurcht, denn die Jenny war ein viel kleineres Schiff, und ihre Breitseite hatte auf den Rumpf des Spaniers gezielt, nicht auf die Masten und Segel … und ihm kam der Gedanke, dass er hier die Wiederholung des ursprünglichen Kampfes zwischen der Nuestra Señora de Lagrimas und der Charlotte Bailey sah, ausgeführt von zeitweilig wiedererweckten Teilnehmern, die sich – wie rudimentär auch immer – noch an die ursprüngliche Abfolge der Ereignisse erinnerten.
    » Pinne weiter an Backbord!«, befahl Davies. » Wir werden«, fügte er an Hurwood gewandt hinzu, » um den Bug der Carmichael wenden und entern sie auf Steuerbord.«
    Die beiden Schiffe waren langsamer geworden, noch bevor die de Lagrimas ihren Mast verlor, und so hatte die Jenny, so überladen sie war und mit verminderter Fahrt, immer noch Raum, um den Kurs der Carmichael zu kreuzen. Dann schrammte die Jenny an der Steuerbordseite der Carmichael entlang, dass die Splitter flogen und die Schaluppe unter dem Aufprall erzitterte. Davies ließ Enterhaken hinaufwerfen und einen Moment später schwärmten die Piraten wie große, zerlumpte Käfer die Taue hinauf. Unter den ersten von ihnen war Shandy, der es paradox fand, dass er bei dieser zweiten Enterung der Carmichael durch die Jenny einer der bärtigen, wilden Männer war, die an den Enterleinen an Bord kletterten.
    Als er auf halbem Wege war und die Stiefelsohlen gegen den Schiffsrumpf stemmte, während er sich hochzog, sprang ihm der Rumpf plötzlich entgegen wie ein Trommelfell, das von einem gewaltigen Klöppel angeschlagen wurde, und er schwang mit der Leine seitwärts und schlug gegen die Planken. Von dem Aufprall schwirrte ihm der Kopf, und sein rechter Arm wurde taub, aber es gelang ihm, sich mit der linken Hand weiter am Seil festzuhalten. Ein Blick hinunter zu seinen baumelnden Stiefeln verriet ihm, dass die meisten der Männer, die mit ihm auf den Enterleinen gewesen waren, in das aufgewühlte Wasser zwischen den beiden Schiffen klatschten.
    » Der Spanier hat gerade die andere Seite getroffen!«, rief Davies und sprang selbst nach einer der schlaffen Leinen. » Jetzt oder nie!«
    Shandy holte tief Luft – durch den Mund, denn aus seiner Nase tropfte Blut –, bog die Finger der rechten Hand durch, schwang sie hoch, um das Seil zu packen, zog die Beine hoch und drückte sich vom Rumpf weg, um müde weiterzuklettern. Er war der Erste, der die Reling zu fassen bekam und

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