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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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geschwängert vom Geruch einer leeren Eisenpfanne auf einem Feuer und das Schiff war wieder die gedrungene, hoch aus dem Wasser ragende Charlotte Bailey mit ihren vielen Decks. Die englischen und spanischen Matrosen nahmen nicht nur wieder Gestalt an, sondern wirkten geradezu lebendig – gerötete Wangen, gebräunte Arme, leuchtend blitzende Augen –, und Friend strahlte tatsächlich am Himmel wie eine menschenförmige Sonne …
    Leo Friend wusste, dass er jetzt kurz davor stand, alles zu verstehen; er stand auf der Schwelle zur Gottheit selbst – und zwar ohne jedwede Hilfe von außen, ohne irgendetwas anderes zu benutzen als seine eigenen Kräfte! Er konnte jetzt sehen, dass es genauso sein musste. Man tat es selbst, oder es geschah nicht; und um Benjamin Hurwood zu überwältigen, würde er es tun müssen, und er würde es genau jetzt tun müssen.
    Aber um Gott zu sein – was natürlich bedeutete, die ganze Zeit über Gott gewesen zu sein –, musste er jedes Ereignis in seiner Vergangenheit rechtfertigen, musste jede Tat in Begriffen definieren, die zur Göttlichkeit passten. Es durfte nicht länger irgendetwas geben, an das sich zu erinnern zu unbehaglich wäre.
    Mit übermenschlicher Schnelligkeit ließ er in seiner Erinnerung Jahr für Jahr seines Lebens und seiner Taten noch einmal vorbeiziehen – das Quälen von Haustieren, die Bosheit gegen Spielkameraden, die vergifteten Süßigkeiten, die er in der Nähe von Schulhäusern und Arbeiterheimen ausgelegt hatte – und er konnte jede einzelne Tat ins Auge fassen und in die Göttlichkeit eingliedern, und er spürte, wie er stetig mehr Macht gewann, während er der vollkommenen Selbstzufriedenheit entgegenstrebte, die ihm Allmacht bescheren würde …
    Und zu guter Letzt, nachdem Hurwood buchstäblich verschwunden war, gab es nur noch ein Ereignis in Friends Leben, das aus der einfachen, armseligen Realität herausgehoben und gottgleich gemacht werden musste, aber es war die herzzerreißendste und traumatischste Erfahrung, die er je gemacht hatte, und sich ihr auch nur zu stellen, sich auch nur dazu zu zwingen, sich daran zu erinnern, war unendlich schwierig. Aber jetzt, während er mitten in der Luft über seinem Schiff hing, seinem beinahe vernichteten Feind gegenüber und die beinahe gewonnene Beute vor Augen, wie sie sich unter ihm von der zerstörten Kajüte erhob, zwang er sich, die Erfahrung noch einmal zu durchleben.
    Er war fünfzehn Jahre alt, stand in seinem überfüllten, stinkenden Schlafzimmer am Bücherregal … nein, in seinem elegant vertäfeltem Schlafgemach, das von Wohlgerüchen erfüllt war, von der Jasminbrise, die durch die offenen Zinnen wehte, und dem Hauch von feinen Lederbindungen. Es war immer so gewesen, es hatte niemals den schäbigen, unsauberen Raum gegeben, und seine Mutter öffnete die Tür und kam herein. Nur für einen Moment war sie eine fette, grauhaarige alte Vettel in einem schwarzen, sackartigen Kleid, dann war sie eine hochgewachsene, gut aussehende Frau in einer gemusterten Seidenrobe, die vorn offen war. Sieben Jahre zuvor hatte er Magie entdeckt, und er hatte sie seither emsig geübt und wusste jetzt eine Menge, und er wollte den Reichtum in seinem Geist mit der einzigen Person teilen, die diesen Geist jemals zu schätzen gewusst hatte.
    Er trat an sie heran und küsste sie …
    Aber die Szene begann ihm zu entgleiten; seine Mutter war wieder die unförmige alte Frau, nur heraufgekommen, um sein Bett frisch zu beziehen, und der Raum war wieder das schmuddelige Zimmer, und er war ein verschüchterter, fetter Junge, unterbrochen inmitten einer seiner vielen einsamen Selbstverabreichungen, und er küsste sie schwindlig, weil er in seinem Delirium, das sein Herz hämmern ließ, den Grund für ihren Besuch missverstanden hatte … » Oh, Mommy«, keuchte er, » du und ich, wir können die Welt haben, ich verstehe mich auf Magie, ich kann Dinge tun …«
    Mit einer gewaltigen Willensanstrengung zwang er sie, die wunderschön gewandete Frau zu sein, zwang den Raum, sich wieder zu seinen königlichen Ausmaßen auszudehnen … und er tat es gerade rechtzeitig, denn er wusste, dass als Nächstes sein Vater, der Ehemann seiner Mutter, den Raum betrat, und er bezweifelte ernsthaft, dass er diese Szene noch einmal so durchleben konnte, wie sie sich wirklich abgespielt hatte.
    Nun, sagte er sich unsicher, ich schaffe hier Realität. In wenigen Minuten wird diese unerträgliche Erinnerung nicht mehr wirklich geschehen

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