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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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bereits solch unbußfertige Bürger wie Charlie Vane verjagt und Ansprachen über bürgerlichen Stolz gehalten und die britische Flagge gehisst, außerdem hatte er Pamphlete der Gesellschaft zur Förderung christlichen Wissens verteilt – und so kam die Nachricht, dass Philip Davies tot und die Carmichael weggehext worden war, für niemanden besonders überraschend. Es schien zum Gang der Dinge zu passen.
    Zuerst hatte Shandy die alte Schaluppe ignoriert. Er hatte sie an einem Freitagnachmittag in den Hafen gesegelt, und an diesem Abend hatte er betrunken sein bisher bestes » Unternehmen Bouillabaisse« gestartet und für die Zubereitung den größten Teil der verbliebenen Piratenbeute – Knoblauch, Safran, Tomaten und Olivenöl – auf der Insel verbraucht. Sogar Woodes Rogers selbst hatte die Bouillabaisse gelobt; er hatte gefragt, was der Menschenauflauf am Strand zu bedeuten habe, und als man es ihm sagte, hatte er für sich selbst und seine Kapitäne etwas von dem Meereseintopf erbeten; aber Shandy hatte von der Suppe, den Zutaten und den Meeresfrüchten nur so viel gekostet, um sicher zu sein, dass sie richtig zubereitet waren. Im Übrigen hatte er eine Flasche von Davies’ gehortetem 1702er-Latour nach der anderen geleert. Er hatte über jeden Scherz gelacht und war in die verschiedenen Rundgesänge eingestimmt, die absolut nicht mehr so fröhlich und unbekümmert klangen wie in den Tagen vor Rogers Ankunft. Aber er war mit den Gedanken nicht dabei gewesen. Das hatte selbst Skank bemerkt und ihn aufgefordert, zu essen und zu trinken und sich morgen den Kopf über die Probleme von morgen zu zerbrechen.
    Shandy hatte schließlich den Feuern, den ehemaligen Piraten und den nervös zuschauenden Marineoffizieren den Rücken gekehrt und war zum Ufer hinuntergegangen. Er hatte erst vor sechs Wochen zum ersten Mal einen Fuß auf diese Insel gesetzt, aber hier bereits mehr das Gefühl, zu Hause zu sein, als er es je zuvor irgendwo gehabt hatte, und er kannte die Bewohner der Insel besser, als er die jeder anderen Gemeinschaft gekannt hatte. Er hatte hier Freunde gefunden und sie sterben sehen, bevor die Schiffe des gegenwärtigen Gouverneurs auch nur weiße Punkte am ewig blauen Horizont gewesen waren.
    Dann hatte er in der Dunkelheit jemanden hinter sich durch den Sand schlurfen hören, und er hatte sich angstvoll umgedreht und gefragt: » Wer ist da?«
    Eine plumpe Gestalt in einem zerlumpten Kleid zeichnete sich als Silhouette gegen das Feuer ab. » Ich bin es, Jack«, erklang die leise Stimme eines Mädchens. » Ann. Ann Bonny.«
    Er erinnerte sich, gehört zu haben, dass sie versuchte, sich von Jim Bonny scheiden zu lassen. » Ann.« Er zögerte, dann ging er langsam zu ihr hinüber. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. » So viele von ihnen sind jetzt tot, Ann«, sagte er und fragte sich, ob er gleich anfangen würde zu weinen. » Phil … und Hodge … Mr. Bird …«
    Ann lachte, aber er konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. » Ich bin kein Hund!«, zitierte sie leise.
    » Die Zeit vergeht hier so viel … schneller«, sagte er, legte ihr einen Arm um die Schultern und deutete mit der anderen Hand auf den dunklen Dschungel der Insel. » Ich habe das Gefühl, als hätte ich hier schon seit Jahren gelebt.«
    Sie setzten sich in Bewegung und gingen gemeinsam den Strand entlang, weg von den Feuern. » Man muss dafür geeignet sein, Jack«, sagte sie. » Dieser Gouverneur Rogers könnte fünfzig Jahre hier leben, und er würde immer noch nicht dazugehören. Er ist gebunden an Pflichten und deren Konsequenzen, muss über Strafen für Verbrechen entscheiden und darüber, wie viel Geld für wie viel Fracht an diesem oder jenem Datum in diesem Hafen hier gezahlt werden soll. Es sind alles Sachen aus der Alten Welt. Aber du, nun, an dem Tag, an dem ich dich das erste Mal sah, sagte ich mir: Das ist ein Bursche, der für diese Inseln geboren wurde.«
    Diese Inseln. Die Worte waren voller Bilder: Schwärme pinkfarbener Flamingos, die bei Sonnenaufgang vor undurchdringlichen Barrieren aus hohen Mangroven erschienen, Haufen von Schalen zerbrochener Perlmuscheln, versprengt um den rußigen Krater einer Kochfeuergrube im weißen Sand, und blendendes Sonnenlicht, das sich durch den Dunst von Rumtrunkenheit auf blaugrüner See spiegelte, Fetzen rauchgeschwärzter Ladepfropfen, die nach einem Pistolenduell wie die gebrauchten Tintenwischer des Kriegsgottes persönlich über den Strand rollten …
    Und er passte

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