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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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gelernt hatte und aus persönlicher Erfahrung kannte, und er musste sich endlich selbst eingestehen, dass Venner recht hatte. Es wäre das Klügste, umzudrehen und zu versuchen, die fünfundsechzig Seemeilen nach Grand Cayman zurückzulaufen, die östliche Zufahrt durch den Rum Point Channel anzusteuern und so durch das Riff die geschützte nördliche Bucht zu erreichen, um die Jenny dann gut zu vertäuen und Alkohol zu verteilen. Und zwar verdammt bald, denn der Sturm war schneller unterwegs, als die Jenny auch unter besten Umständen lief, und der Wind schien abzuflauen.
    Aber heute, dachte er verzweifelt, ist der dreiundzwanzigste Dezember. Übermorgen wird Hurwood die Magie wirken, die Beth die Seele aus dem Leib ziehen wird. Ich muss Ulysse Segundo finden, wie der alte Narr sich anscheinend nennt, und ich muss ihn heute oder morgen finden, oder ich hätte die Siedlung in New Providence geradeso gut nie zu verlassen brauchen. Und wenn wir nach Nordwesten zurückfahren und den Sturm abwarten, werden wir mindestens den Rest des heutigen Tages verlieren. Aber kann ich diese Männer in einen Sturm führen, der sie möglicherweise alle umbringen wird?
    Oh, zum Teufel, dachte er, warf das Teleskop einem der Piraten unten zu und begann hinunterzuklettern, das ist das Recht des Kapitäns – meine Aufgabe besteht nicht darin, riskante Situationen zu vermeiden, sondern uns durch sie hindurchzuführen. Und ich kann nicht glauben, dass Trauerkloß sich daran hindern lässt, den Boden Jamaikas zu betreten … nicht einmal von einem Hurrikan.
    Er sprang aufs Deck und grinste Skank zuversichtlich zu.
    » Darunter kommen wir weg, selbst wenn die Hälfte von euch sturzbetrunken ist«, erklärte Shandy. » Wir halten Kurs.«
    » Allmächtiger Gott, Jack«, begann Skank hastig, aber Venner unterbrach ihn.
    » Warum?«, fragte Venner scharf. Er zeigte mit einem massigen, sommersprossigen Arm nach achtern. » Grand Cayman ist nur ein paar Stunden entfernt in diese Richtung! Und selbst wenn der Wind tatsächlich abflaut – und es sieht ganz danach aus –, wird uns schon die gottverdammte Strömung dorthin tragen!«
    Shandy wandte sich ohne Hast zu Venner um. » Ich brauche meine Entscheidung nicht zu erklären. Wir würden Grand Cayman nicht erreichen. Dieser Sturm wird uns einholen, und wir nehmen ihn besser von vorn, wenn er kommt.« Venners breite Schultern krümmten sich mit gespannten Muskeln, doch Shandy zwang sich zu lachen. » Und Teufel auch, Mann, der berühmte Segundo ist irgendwo vor uns, erinnerst du dich? Diese Fischer gestern sagten, sie hätten sein Schiff erst am Morgen gesehen! Er hat nicht nur die Beute von einem Dutzend gekaperter Schiffe bei sich, es ist fast sicher, dass er auf der alten Carmichael segelt, die er umbenannt hat. Das ist unser Schiff – und es ist ein hochseetüchtiger Dreimaster. Wir werden ihn brauchen, denn kleine Küstensegler wie die Jenny taugen nicht für lange Strecken nach Madagaskar und den indischen Ozean, und das ist es, was diese Zeiten erfordern. Denk daran, was mit Thatch geschehen ist, als er auf eine Schaluppe umgestiegen ist.«
    » Und dieser Bursche, dieser Ulysse, hat die Frau«, zischte Venner förmlich, » und versuch nicht uns glauben zu machen, dass sei nicht der einzige Grund, warum du ihn fangen willst! Nun, vielleicht bedeutet sie dir mehr als deine Haut, aber mir bedeutet sie nichts. Und ich werde meine Haut nicht riskieren, um sie für dich zu holen.« Er wandte sich den übrigen Männern zu. » Jungs, denkt darüber nach. Warum müssen wir heute diesen Ulysse oder Hurwood einholen? Was ist auszusetzen an nächster Woche?«
    Shandy hatte während der letzten Tage nicht viel geschlafen. » Wir fahren heute hin, weil ich es sage«, stellte er ein wenig wild fest. » Wie wäre es denn damit?«
    Trauerkloß trat neben Shandy und sein gewaltiger Schatten verdeckte Venner. » Wir fahren nach Jamaika«, sagte er.
    Mehrere Sekunden lang, während die Wolke vor ihnen wuchs und Grand Cayman sich immer weiter entfernte, stand Venner reglos da, und sein Blick huschte zwischen Shandy und Trauerkloß und dem Rest der Mannschaft hin und her; offensichtlich fragte er sich, ob er eine Meuterei provozieren konnte.
    Obwohl Shandy hoffte, dass er selbstbewusst wirkte, stellte er sich dieselbe Frage. Er war während des Monats, nachdem Hurwood die Carmichael übernommen hatte, ein durchaus tüchtiger Kapitän gewesen, und man betrachtete ihn immer noch mit einiger Ehrfurcht wegen der

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