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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Bugspriet, und warf das Gewicht der Wassermassen ab wie ein Mann eine Meute mörderischer Hunde, die ihn nur fast zu Boden gerissen hatten.
    Shandy atmete aus. Augenscheinlich war, wer immer die Jenny auf Kiel gelegt hatte, ein Meister seines Fachs gewesen. Er brüllte gegen den Sturm an und befahl, beizudrehen. Als sie den Wellenkamm erreichten und den Wind von Steuerbord hatten, ließ er das Ruder nach Luv legen, sodass die Jenny keine Fahrt mehr machte und vom Sturm quer vor sich her getrieben wurde. Im Grunde konnten sie den Sturm so abreiten, falls es nicht viel schlimmer wurde.
    Shandy kletterte und hangelte sich hinüber zum Rudergänger. Es bedurfte jetzt keiner weiteren Befehle, und der Sturm hätte ohnehin jedes Wort, das über seine Lippen kam, ungehört davongerissen. Also lehnte er sich an den Heckbalken und überlegte, wie lange die Jenny diese Tortur wohl durchstehen mochte, ohne auseinanderzubrechen.
    Der warme Wind wurde immer noch stärker, und Gischt flog in schnellen Wolken vorbei und brannte ihm auf Gesicht und Händen; er leckte sich die Lippen, und der salzige Geschmack sagte ihm, dass es Meeresgischt war und nicht Regen. Die Wellen waren so hoch und sahen so mächtig aus wie Kliffs, und wann immer die Jenny die Wetterseite eines Wellenberges hinunterglitt und in die nächste See krachte, wurde sie so heftig erschüttert und herumgeworfen, dass der Mast über ihnen wild hin und her schwang. Sofort war die Gischt wie weggeblasen; an ihrer Stelle strömte Shandy dann Meerwasser um die Beine und versuchte ihn mitzuziehen.
    Er blinzelte weiter gegen den peitschenden Wind an und war nach einigen Minuten wirklich erstaunt, wie gut die Jenny sich hielt. Dann bemerkte er, dass vom Ruderkopf Dampf davonwehte, und als er genauer hinsah, stellte er fest, dass der eiserne Ruderschaft in einem matten Rot glühte. Trauerkloß stand auf der anderen Seite der Ruderpinne, fast reglos und mit geschlossenen Augen. Shandy sah, dass er sich auf die Knöchel biss und Blut daraus hervorspritzte – also hielt sich die Jenny nicht nur wegen der guten Arbeit des Rudergängers und weil sie ein solides Schiff war, sondern auch der Bocor steuerte das Seine bei, um sie durch diesen Sturm zu bringen.
    Aber allem zum Trotz war jede Welle, die auf sie zulief, höher als die vorausgegangene, und als das ihm jetzt immer kleiner erscheinende Boot den nächsten Wellenkamm erreicht hatte und Shandy den Blick über die See schweifen ließ, sah es fast so aus, als befänden sie sich auf einem weiten weißen Tuch, dass über die Alpen gezogen wurde. Der Sturm heulte so wild, dass Shandy sich immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, dass hinter dieser Naturgewalt kein zorniger Wille stand.
    Sie fuhren wieder in ein Wellental hinunter und wurden dort von der nächsten See erfasst – die alte Schaluppe kam mit Mühe wieder hoch, das Wasser lief zu beiden Seiten von Bord –, und als es wieder hinaufging, spürte Shandy, wie die Jenny herumgedrückt wurde. Die Klau der inzwischen auf kaum mehr als Augenhöhe gefahrenen Gaffel glühte orangefarben.
    Dann waren sie wieder auf einem Wellenkamm und die volle Kraft des Sturms traf sie erneut. Mit einem Knall wie von einem Schuss, der selbst im Orkan zu hören war, brach die glühende Gaffelklau. Der Rest der Gaffel – jetzt ein feuerköpfiger Spieß an dem hin und her schlagenden Segel – schlug unter dem Baum auf Deck und wurde vom Sturm, nachdem das Segel am Vorliek ausgerissen war, wie ein Speer nach achtern geschleudert, wo er sich in den Heckbalken bohrte.
    Shandy hatte sich geduckt, als die Gaffel im Sturm über das Deck wirbelte, und als er nun aufblickte, besorgt, sie könne den Rudergänger von Bord gefegt haben oder, schlimmer noch, die Ruderpinne zerstört haben, sah er den Rudergänger immer noch an der Pinne stehen – und erst als seine Schultern erleichtert herabsackten, bemerkte Shandy, dass die eisenbeschlagene Gaffel Trauerkloß in der Mitte seines massigen Rumpfes getroffen und aufrecht an den Heckbalken genagelt hatte.
    » Allmächtiger Gott«, rief Shandy mit von Gischt tauben Lippen. Konnten sie den Sturm ohne den Bocor überstehen?
    Shandy war alles andere als zuversichtlich, aber er stieß sich von der Reling ab und zog sich am Baum nach vorn, vorbei an dem festgezurrten Achterliek des gerefften Großsegels bis zum Mast, wo das lose Vorliek heftig im Sturm schlug. Jemand war auf der anderen Seite des hin und her schwingenden Baums mitgekommen – es war Skank, und

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