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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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den Glanz von Tränen in ihren Augen, bevor sie sie ungeduldig mit der Manschette wegwischte.
    » Soll ich Sie unter Deck bringen?«, fragte Chandagnac leise.
    Sie schüttelte den Kopf. » Ich könnte es nicht ertragen.«
    Davies schaute zu den beiden hinüber. » Du hast noch keine Aufgabe«, sagte er zu Chandagnac. » Bring sie nach vorn, irgendwohin, wo sie nicht im Weg ist. Und dann kannst du ihr auch gleich etwas Rum besorgen.«
    » Ich denke kaum …«, begann Chandagnac steif, aber Elizabeth Hurwood unterbrach ihn.
    » Um Gottes Willen, ja«, sagte sie.
    Davies grinste Chandagnac an und bedeutete ihnen, nach vorn zu gehen.
    Einige Minuten später waren sie auf dem erhöhten Vorderdeck, der Back, beim Steuerbordanker und durch das straffe Hauptsegel hinter ihnen vor dem Wind geschützt. Chandagnac war in die Kombüse gegangen, hatte zwei Becher mit Rum gefüllt und reichte ihr jetzt einen davon.
    Wieder begann Tauwerk durch die Blöcke zu rauschen und Holz in der Takelage zu knarren, als die Segel voll in den beständigen Ostwind gedreht wurden; das Schiff beschrieb einen weiten Bogen erst nach Nord, dann nach Nordost, und Chandagnac sah zu, wie sich das gut besetzte Beiboot entfernte und schließlich hinter dem hohen Heckaufbau verschwand. Die Schaluppe war immer noch auf der Backbordseite mit der Carmichael gleichauf. Chandagnac konnte von dem Platz, wo er auf die Reling gestützt an seinem warmen Rum nippte, den Mast und die Segel des kleineren Schiffes gut sehen, und als sie Fahrt aufnahmen und die Schaluppe etwas abfiel, um dem größeren Schiff Raum zu geben, war auch deren langer, niedriger Rumpf gut zu erkennen. Immer noch ungläubig schüttelte er den Kopf.
    » Nun, wir könnten es schlechter getroffen haben«, stellte er in ruhigem Ton fest und versuchte damit, ebenso sich selbst wie Beth zu überzeugen. » Mir ist offensichtlich der Angriff auf ihren Anführer vergeben worden, und Ihr seid vor diesen Kreaturen geschützt durch … durch die Stellung Eures Vaters unter ihnen.« Links unter ihm lief einer der Piraten mittschiffs herum, pfiff vor sich hin und verstreute aus einem Eimer Sand auf die vielen Blutlachen und -flecke auf Deck. Chandagnac wandte den Blick ab und fuhr fort: » Und wenn wir es irgendwie schaffen, aus dieser Lage herauszukommen, können alle Seeleute aus dem Beiboot bezeugen, dass Ihr und ich gegen unseren Willen hiergeblieben sind.« Er war stolz auf die Festigkeit seiner Stimme und nahm noch einen Schluck Rum, um das Zittern, das sich, nachdem die kritischste Situation nun überstanden war, in seinen Händen und Beinen ausbreitete.
    » Mein Gott«, sagte Beth benommen, » ich kann nur hoffen, dass er hier draußen stirbt. Er wird nie mehr zurückkehren können. Man würde ihn noch nicht einmal in ein Irrenhaus stecken – man würde ihn hängen.«
    Chandagnac nickte und dachte, dass selbst Hängen noch besser war als das, was ihr Vater verdiente.
    » Ich hätte seinen Wahnsinn kommen sehen sollen«, sagte sie. » Ich wusste, dass er … exzentrisch geworden war, sich mit Forschungen beschäftigte, die … etwas verrückt erschienen … aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass er völlig verrückt würde wie ein tollwütiger Hund und anfangen, Menschen umzubringen.«
    Chandagnac dachte an den Matrosen, dessen Ermordung an der Drehbasse er mit angesehen hatte, und an den, dem Hurwood einen Moment später ins Gesicht geschossen hatte. » Es ist nicht in irgendeiner Art von … Raserei geschehen, Miss Hurwood«, erklärte er knapp. » Er ist kalt, ja systematisch vorgegangen wie ein Koch, der auf seiner Küchentheke Ameisen zerquetscht, eine nach der anderen, bevor er sich die Hände abwischt und sich seiner nächsten Aufgabe zuwendet. Und der Fettsack hat es ihm am anderen Ende des Schiffs Schuss für Schuss gleichgetan.«
    » Friend, ja«, sagte sie. » Es war immer etwas Hassenswertes an ihm. Zweifellos hat er meinen armen Vater in diesen Plan verwickelt, wie immer er aussieht. Aber mein Vater ist wahnsinnig. Wisst Ihr, kurz bevor wir letzten Monat England verlassen haben, ist er einmal die ganze Nacht fortgeblieben und erst am Morgen ganz verdreckt und ohne Hut zurückgekommen. Mit einer stinkenden, kleinen Holzschachtel, die er umklammert hielt. Er wollte nicht sagen, was es war – als ich ihn danach fragte, starrte er mich nur an, als habe er mich noch nie zuvor gesehen –, aber er hat sich seither nicht von der Schachtel getrennt. Sie ist jetzt in seiner Kabine, und

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