In fremderen Gezeiten
Nacht eine Menge Geld bei sich gehabt, und er war Mitte sechzig und voller Zweifel gewesen, was seine Zukunft betraf, also hatte er, statt das Geld auszuhändigen, wie er es einige Male zuvor getan hatte, wenn sie ausgeraubt worden waren, das Messer aus der Tasche gezogen, mit dem er Marionetten Gesichter und Hände schnitzte, und die Räuber damit bedroht.
Chandagnac lehnte sich an eine der nicht abgefeuerten Drehbassen an Steuerbord und schwelgte vorsichtig in der Erkenntnis, dass die Sonne ihm warm auf den Rücken schien und dass er leicht betrunken war und dass ihm nichts wehtat.
Einer der Räuber hatte seinem Vater das Messer mit dem ersten, verächtlichen Tritt aus der Hand geschleudert, und dann waren da nur noch Fäuste, Zähne, Knie und Stiefel gewesen in der Dunkelheit, und als die Räuber davongingen, lachend und krähend, und das Geld in der unerwartet dicken Börse zählten, mussten sie gewiss angenommen haben, dass sie zwei Leichen in der Gasse zurückließen.
In den Jahren seither hatte Chandagnac manchmal gewünscht, sie hätten mit dieser Annahme richtig gelegen, denn weder er noch sein Vater hatten sich je ganz davon erholt.
Die beiden hatten es schließlich geschafft, in ihr Zimmer zurückzukehren. Sein Vater hatte seine Schneidezähne verloren und verlor später auch sein linkes Auge, und er hatte sich mehrere Rippen gebrochen und möglicherweise den Schädel. Der junge John Chandagnac hatte durch den Tritt eines schweren Mannes die Benutzung der rechten Hand beinahe zur Gänze eingebüßt, und einen Monat lang war er mit einem Gehstock gegangen, und es hatte ein volles Jahr gedauert, bis sein Urin wieder ganz frei von Blut gewesen war. Obwohl sich die verletzte Hand schließlich fast vollkommen erholt hatte, war sie ein guter Vorwand gewesen, um sein Nomadenleben aufzugeben, und mit dünn bemäntelter Bettelei hatte er es geschafft, sich Reisegeld und ein Quartier bei einem Verwandten in England zu sichern, und vor seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag hatte er eine Stelle als Buchhalter in einer englischen Textilfirma angetreten.
Sein Vater, dessen Gesundheitszustand sich immer weiter verschlechterte, hatte das Marionettentheater noch weitere zwei Jahre allein geführt, bevor er im Winter des Jahres 1714 in Brüssel gestorben war. Er hatte nie von dem Geld erfahren, das sein geworden war, dem Geld, das sein Leben auf solch dramatische Weise hätte verlängern und verschönern können … dem Geld, um das ihn sein jüngerer Bruder, Sebastian, so gerissen betrogen hatte.
Chandagnac schaute über die rechte Schulter und blinzelte zum Horizont im Osten hinüber, bis er glaubte, eine zarte, dunkle Linie zu sehen, bei der es sich vielleicht um Hispaniola handeln mochte. Ich hätte dort etwa in einer Woche eintreffen sollen, dachte er zornig. Wie lange wird es jetzt dauern? Stirb nicht, Onkel Sebastian. Stirb nicht, bevor ich komme.
Kapitel 2
Selbst im Zwielicht und mit den Kochfeuern, die den dunkler werdenden Strand zu sprenkeln begannen, war das ungleichmäßige Muster der Untiefen in der Hafenbucht deutlich zu erkennen. Die Boote, die das jenseitige Ende der Schweinsinsel umrundeten, mussten ständig den Kurs ändern, wenn sie auf ihrem Weg vom offenen Meer zu der Siedlung von New Providence in dem tieferen, dunkelblauen Wasser bleiben wollten.
Die meisten Boote der Siedlung hatten für die Nacht bereits ihren festen Platz gefunden. Entweder lagen sie in der Bucht vor Anker, waren an deren verfallenem Landungssteg festgemacht oder – die kleineren Boote – auf den weißen Sand gezogen worden. Die Bewohner der Insel wandten ihr Interesse in dieser Stunde ihrem Abendessen zu. Zu keiner anderen Tageszeit konnte der Gestank der Siedlung es so gut mit der sauberen Meeresbrise aufnehmen, denn zu dessen üblicher Mischung aus den Aromen von Teerrauch, Schwefel, Essensresten und den ungezählten provisorischen Latrinen gesellte sich nun das vielerorts verblüffende olfaktorische Spektrum wenig sachkundigen Kochens: der Geruch von abgebrannten Hühnerfedern, wenn jemand zu ungeduldig war, die Vögel zu rupfen, von seltsamen Eintöpfen, in die ein Amateur mit begeisterter Hand jede Menge erbeutete Minze und Koriander geworfen hatte, außerdem von chinesischem Senf, um den Geschmack von zweifelhaftem Fleisch zu überdecken, und von bedenklichen, manchmal sogar explosiven Experimenten in der Kunst der Punschherstellung.
Benjamin Hurwood war vier Stunden zuvor mit seiner Tochter und Leo Friend von
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