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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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ich schwöre, dass er spät in der Nacht mit ihr flüstert. Und, mein Gott, Ihr habt doch sein Buch gelesen! Er war früher brillant! Welche Erklärung außer Wahnsinn könnte es dafür geben, dass der Verfasser der Verteidigung des freien Willens all diesen Unsinn über Ochsenschwänze und zweiköpfige Hunde faselt?«
    Trotz ihrer sorgsam beherrschten Redeweise entgingen Chandagnac weder ihre Anspannung noch ihre Zweifel. » Da kann ich nicht widersprechen«, räumte er sanft ein.
    Sie trank ihren Rum aus. » Vielleicht werde ich unter Deck gehen. Oh, hm, John, könntet Ihr mir helfen, etwas zu essen zu bekommen?«
    Chandagnac sah sie an. » Jetzt sofort? Sicher, ich schätze, das kann ich. Was habt Ihr …«
    » Nein, ich meine bei den Mahlzeiten. Es könnte jetzt noch schwieriger werden, die Diät zu meiden, die Friend mir verschrieben hat, und ich verspüre mehr denn je den Wunsch, hellwach zu sein.«
    Chandagnac lächelte, aber er dachte erneut über die Konsequenzen nach, die es hatte, wenn man streunenden Hunden etwas Essbares zuwarf. » Ich werde tun, was ich kann. Aber Gott weiß, was diese Teufel essen. Friends Kräuter wären vielleicht vorzuziehen.«
    » Ihr habt sie nicht gekostet.« Sie ging zurück zum Niedergang, hielt jedoch noch einmal inne und drehte sich um. » Es war sehr mutig, John, diesen Piraten so herauszufordern.«
    » Es war keine Herausforderung, es war nur … eine Art Reflex.« Er stellte fest, dass er langsam ärgerlich wurde. » Ich hatte den alten Chaworth ins Herz geschlossen. Er hat mich … an einen anderen alten Mann erinnert. Keiner von ihnen hatte einen gottverdammten Funken Verstand im Kopf. Und ich schätze, das Gleiche gilt auch für mich, sonst wäre ich jetzt in diesem Boot.« Er kippte den Rest seines Rums herunter. » Nun, wir sehen uns später.«
    Er ließ den Blick am Bugspriet vorbei zum blauen Horizont schweifen, und als er sich wieder umdrehte, war sie fort. Er entspannte sich ein wenig und beobachtete die neue Mannschaft bei der Arbeit. Die Seeräuber kletterten im Rigg herum, beweglich wie Spinnen, und verfluchten einander gelegentlich auf Englisch, Französisch, Italienisch und einigen Sprachen, die Chandagnac nie gehört hatte. Obwohl ihre Grammatik grauenhaft war, musste er einräumen, dass die Piraten, was Beschimpfungen, Gotteslästerungen und kunstvolle Beleidigungen betraf, aus jeder Sprache, die er verstand, das Beste zu machen wussten.
    Er lächelte unwillkürlich und begriff erst nach einer Weile, dass diese vielsprachige und auf gutmütige Weise » furchtbare« Neckerei genau das war, was er von früher aus den Tavernen von Amsterdam, Marseille, Brighton und Venedig kannte; in seiner Erinnerung vermischten sie sich alle zu einer archetypischen Hafentaverne, in der sein Vater und er ewig an einem Tisch am Feuer saßen, die einheimische Spezialität tranken und mit anderen Reisenden Neuigkeiten austauschten. Dem jungen Chandagnac war es manchmal so vorgekommen, als seien die Marionetten Teil einer hölzernen Aristokratie, die mit zwei Dienern aus Fleisch und Blut reiste. Und jetzt, sieben Jahre nachdem er diesem Leben den Rücken gekehrt hatte, ging ihm durch den Kopf, dass die Marionetten keine schlechten Herren gewesen waren. Die Bezahlung war unregelmäßig gewesen, denn die großen Tage europäischer Marionettentheater hatten 1690 ein Ende gefunden, im Jahr von Chandagnacs Geburt, als im Reich das zehnjährige Verbot der Geistlichkeit aufgehoben wurde, Schauspiele von echten Schauspielern vorführen zu lassen. Aber sie hatten trotzdem gelegentlich hohe Einnahmen gehabt, und dann waren die heißen Mahlzeiten und warmen Betten nur umso erfreulicher gewesen wegen der Erinnerung an Monate in eisigen Zimmern und viele versäumte Mahlzeiten.
    Der Pirat mit dem Sandeimer hatte seine Aufgabe anscheinend erledigt, aber als er am Hauptmast vorbei nach achtern stapfte, rutschte er mit dem Absatz weg. Er sah sich finster um und forderte jeden heraus zu lachen, dann kippte er den ganzen Rest seines Sandes auf die verschmierte Stelle und schritt davon.
    Chandagnac fragte sich, ob es vielleicht Chaworth’ Blut war, das ihn beinahe zu Fall gebracht hätte. Und er erinnerte sich an die Nacht in Nantes, als sein Vater gegen eine Bande rauer Männer ein Messer gezogen hatte. Die Kerle hatten vor einer Weintaverne auf Vater und Sohn Chandagnac gewartet und die beiden dann in die Enge getrieben und all ihr Geld verlangt. Der alte François Chandagnac hatte in dieser

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