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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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die meisten der Piraten entweder in irgendwelchen Hütten verschwunden oder hatten sich mit ein paar Flaschen hingesetzt, um ernsthaft und entschlossen die ganze Nacht durchzuzechen; Shandy kam zu dem Schluss, dass er genug getrunken hatte, um schlafen zu können, und ging zu der windschiefen Hütte aus Planken und Segeltuch, die er sich unter den Bäumen gebaut hatte. Er marschierte den sandigen Hang hinauf, bis ihn eine Stimme, die vor ihm tief wie eine Orgel am Grund eines Bergwerkschachtes dröhnte, zum Stehenbleiben veranlasste. Shandy blinzelte und versuchte, in dem durch Palmwedel gefilterten Mondlicht etwas zu erkennen, und schließlich machte er eine riesige, schwarze Gestalt aus, die mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz in einem in den Sand gezeichneten und sorgfältig freigeräumten Kreis saß.
    » Komm nicht in den Kreis«, sagte die Gestalt zu ihm, ohne sich umzuschauen, und Shandy erkannte nun Trauerkloß, Davies’ Bocor. Der Mann war angeblich taub, daher nickte Shandy nur – und begriff, während er das tat, dass es noch nutzloser war als Worte, da der Mann in die andere Richtung schaute. Dann trat er ein oder zwei Schritte zurück.
    Trauerkloß sah sich nicht um. Er zeichnete mit dem Holzmesser, das er immer bei sich trug, Formen in die Luft, und er schien Mühe zu haben, die Luft zu durchteilen. » Raasclaat«, fluchte er leise, dann brummte er: » Ah, ich bringe diese flinken Bastarde nicht dazu, sich zu benehmen. Habe die ganze Nacht mit ihnen gestritten.« Der Bocor war in Virginia aufgewachsen, und da er taub war, hatte er diesen Akzent nie verloren.
    » Ähm …«, sagte Shandy unsicher, schaute sich um und suchte nach einem anderen Weg den Hang hinauf, denn Trauerkloß saß genau im Durchgang zu seiner Hütte. » Ähm, wie wäre es, wenn ich …«
    Plötzlich riss der Bocor den Arm hoch und zeigte mit dem Holzmesser auf den Himmel.
    Shandy schaute automatisch nach oben, und zwischen der zottigen Schwärze zweier Palmen sah er kurz eine Sternschnuppe, wie eine Linie aus leuchtender Kreide auf einer fernen Tafel. Dreißig Sekunden später erstarb jeder Wind – um kurz danach ein wenig stärker wieder einzusetzen.
    Trauerkloß ließ den Arm sinken und stand auf – geschmeidig trotz seiner ehrfurchtgebietenden Körperfülle. Er drehte sich um, bedachte Shandy mit einem wenig ermutigenden Lächeln und trat beiseite. » Nur zu«, forderte er ihn auf. » Das ist jetzt nicht mehr als ein Strich im Sand.«
    » … Danke.« Shandy schob sich an dem Riesen vorbei, sprang schnell über den Kreis und ging weiter.
    Er hörte, wie Trauerkloß zum Strand hinunterging; der massige Bocor kicherte und sagte mit seiner auf unheimliche Weise weittragenden Stimme: » C’etait impossible de savoir si c’etait le froid ou la faim.« Dann kicherte er wieder und kurz darauf konnte Shandy ihn nicht mehr hören.
    Shandy hielt inne und starrte dem Mann minutenlang rastlos nach, als wolle er ihm vielleicht folgen; dann schaute er beklommen zu den Sternen auf und ging lautlos zu seiner Hütte, froh darüber, dass er sie unter einem besonders dichten Laubdach errichtet hatte.

Kapitel 6
    Davies hatte vermutlich nicht geschlafen – als die Morgendämmerung erst ein fahler, blauer Schimmer hinter den Palmen auf der Schweinsinsel war, warf er irgendjemandes alten Umhang über die Asche eines der Feuer der letzten Nacht, und als sich das Kleidungsstück aufblähte, zu schwelen begann und dann in Flammen aufging, stolzierte er laut rufend umher, zog Schlafende an Haaren und Bärten und trat die Stützpfosten provisorischer Zelte weg. Die stöhnenden Piraten rappelten sich hoch und schlenderten zum Feuer, und viele von ihnen schleppten Stücke der Zelte und Hütten, die sie bald verlassen würden, um sie auf die wiederbelebten Flammen zu werfen. Davies gab ihnen Zeit, einen Topf mit Rum und Bier zu erhitzen und genug von dem würzigen Stärkungstrunk zu sich zu nehmen, um sie für die Arbeit vorzubereiten, bevor er sie zum Strand führte, wo die Carmichael lag.
    Eine Stunde lang spannten sie ein kompliziertes Netz von Seilen und Taljen und bauten es wieder ab, um die Zugrichtung zu verbessern. Dabei stießen sie schreckliche Flüche aus und fielen ins Wasser oder weinten vor Wut … Aber als die Sonne aufgegangen war, war das Schiff im Wasser, und Davies stolzierte auf der Poop auf und ab, rief den Männern, die die Segel bedienten, Befehle zu und erteilte den Männern an Bord der Schaluppe Jenny, von der das Schiff in

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