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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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übertönen musste. » Nein, gerade genug, um unsere Kleider zu trocknen. Wenn der Regen zuerst gekommen wäre, steckten wir vielleicht in Schwierigkeiten.«
    Shandy nickte und ging zurück aufs Vorschiff. Der Regen war nicht unangenehm kalt, und wie Hodge bemerkt hatte, würde es angenehm sein, das Salz aus seinen Kleidern gewaschen zu bekommen, sodass sie morgen – ausnahmsweise einmal – vollkommen trocknen würden. Der erste Zorn des Regengusses war verebbt und die Carmichael war vor ihnen wieder deutlich sichtbar. Shandy wusste, dass er in wenigen Stunden unter Deck kriechen würde, immer noch in seinen klatschnassen Kleidern, um sich ein Eckchen zum Schlafen zu suchen, und er hoffte, dass Beth Hurwood an Bord des Schiffes ein bequemeres Quartier finden würde. Er lehnte sich zurück und erlaubte seinen schmerzenden Muskeln, sich für die nächste Arbeit zu entspannen, die Hodge ihm zuweisen würde.
    In den freien Stunden des folgenden Tages wurde an den Geschützen geübt, und Shandy, der schon immer gut bei allem gewesen war, was Geschicklichkeit verlangte, galt schon bald als Experte in der schwierigen Kunst, mit einer Drehbasse zu zielen und die glimmende Lunte zum Zündloch zu führen, ohne entweder den langen Lauf zu verreißen oder sich ein Auge auszubrennen, wenn die Pulverladung losging. Als er in schneller Folge sechs leere Kisten, die von der Besatzung der Carmichael als Ziele über Bord geworfen worden waren, zu Splittern schoss, ernannte Hodge ihn vom Lehrling zum Lehrer, und als der Abend dämmerte, war jeder Mann auf dem Boot zumindest ein klein wenig besser im Schießen, als er es am Morgen gewesen war.
    Am dritten Tag übten sie sich weiter im Manövrieren, und am Nachmittag durfte Shandy das Ruder übernehmen und die Befehle erteilen, und in zwanzig Minuten führte er die Schaluppe in einem ovalen, aber vollständigen Kreis um die Carmichael herum. Notfallübungen folgten, und als sie Gefechtstaktiken erprobten, ließ Davies hilfreicherweise einige Kanonen der Carmichael unweit der Jenny ins Wasser feuern, um das Ganze etwas realistischer zu machen.
    Shandy war stolz darauf, wie sicher er sich mittlerweile auf Deck und im Rigg bewegte, stolz auf die Tatsache, dass er – obwohl viele der Piraten gegen diese kraftraubenden Aktivitäten protestierten – nur angenehm müde war, als die untergehende, bernsteinfarbene Sonne begann, goldene Nadeln auf den Wellen hüpfen zu lassen; aber die Freude an seiner Seemannschaft löste sich in Luft auf, als Davies ihnen über das Wasser zurief, dass sie in der vergangenen Nacht zu viel Zeit verloren hätten, als sie beigedreht gelegen hatten, und dass sie diese Nacht bis zum Morgen durchsegeln würden.
    Shandy wurde der Wache von Mitternacht bis vier Uhr zugeteilt, und als er auf Deck kam, lernte er als Erstes, dass nächtliches Segeln nass und kalt war. Schwerer Tau machte selbst die rauen Deckplanken glitschig, und jedes Tau und jede Leine, die er auf seinem Weg nach achtern in die Hand bekam, ließ ihm kaltes Wasser in den Ärmel rinnen. Hodge saß hinter dem Kompasshäuschen, das kantige, aber heitere Gesicht auf unheimliche Weise von unten beleuchtet durch die Kompasslampe mit ihrem roten Glas, die es ihm erlaubte, den Kompass abzulesen, ohne geblendet zu werden und seine Nachtsicht einzubüßen. Zu Shandys Erleichterung waren die Aufgaben, die der Skipper ihm zuwies, einfach und beanspruchten ihn nur zeitweilig: Er musste in periodischen Abständen eine Laterne nehmen und bestimmte, gefährdete Teile der Takelage überprüfen und auf der Back Ausguck halten, falls ihnen entgegen aller Erwartungen ein anderes Schiff auf der nächtlichen See nahe kommen sollte. Ferner musste er dafür sorgen, dass die Buglaterne brannte und mit ihrem matten Schein dem Rudergänger der Carmichael die Position der Schaluppe anzeigte.
    Die Carmichael war ein knatternder, knarrender Turm aus Dunkelheit an Steuerbord, aber manchmal stand Shandy an der Backbordreling und starrte über die vielen Meilen mondbeschienenen Ozeans; dann fragte er sich schläfrig, ob er nicht Köpfe und erhobene, winkende Arme in mittlerer Entfernung erkenne und schwache Chöre eine ewige, nur aus zwei Tönen bestehende Melodie singen höre, die so alt war wie die Gezeiten selbst.
    Um vier gab Hodge ihm einen Becher über der Kompasslampe gewärmten Rum, sagte ihm, wen er wecken und als Ersatz nach oben schicken sollte, und schickte ihn nach unten, damit er schlief, solange er konnte.
    Es war

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