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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Skank. » Jetzt schieß …«
    Rauch brach aus den verbliebenen Geschützen des Kriegsschiffs ihnen gegenüber aus, aber das Brüllen des Kanonenfeuers verlor sich in dem plötzlichen, harten Schlag, der die Jenny traf, und Shandy wurde von der Drehbasse zurück in die Traube der Männer hinter ihm geschleudert. Halbtaub und benommen kam er quer auf einem bewegungslos ausgestreckten Körper zu sich und versuchte, Luft in seine Lungen zu ziehen, ohne an dem Blut und den Zahnsplittern in seinem Mund zu ersticken. Durch das Klingeln in seinen Ohren nahm er Rufe des Zorns und der Panik wahr und er spürte eine neue, träge Bewegung des Decks unter sich.
    Hodge brüllte Befehle, und Shandy rollte sich herum und richtete sich schließlich hustend und spuckend auf. Ängstlich schaute er an sich hinab, und er war zutiefst dankbar zu sehen, dass alle seine Gliedmaßen noch vorhanden, nicht durchlöchert und anscheinend auch nicht gebrochen waren. Seine Dankbarkeit wuchs noch, als er sich auf dem Boot umsah. Überall lagen Tote und Verletzte, die eingefallenen Segel waren zerrissen und blutbespritzt. Das wettergegerbte dunkle Holz des Mastes und des Schandecks war an vielen Stellen aufgerissen und zeigte das helle, frische Holz darunter. Es sah aus, so dachte Shandy benommen, als hätte Gott sich vom Himmel heruntergebeugt und wäre einige Male mit einem scharfzackigen Rechen über das Boot gefegt.
    » Ruder hart Steuerbord, Gott sei’s verdammt«, schrie Hodge. Der Kapitän wischte etwas von dem Blut weg, das ihm über die Stirn rann. » Und irgendjemand an die Großschot!«
    Ein Mann am Ruder versuchte unter Krämpfen, dem Befehl Folge zu leisten, aber er fiel hilflos auf die Knie und Blut schäumte aus einem gezackten Loch in seiner Brust. Skank war verzweifelt über einen Haufen seiner zerfetzten Gefährten geklettert, um die Großschot zu fassen … Aber es war zu spät. Die Jenny war in den wenigen Augenblicken, nachdem sie die Breitseite mit Hagel – grobem Schrot – und Kettenkugeln schwer getroffen hatte, unkontrolliert in den Wind geschossen und würde mindestens in den nächsten Minuten manövrierunfähig sein. Shandy hatte gehört, dass man diese Zwangslage » in Ketten liegen« nannte, und ihm kam der Gedanke, dass der Ausdruck in diesem Fall kaum passender sein könnte.
    Der hohe, prachtvolle Aufbau des Kriegsschiffes, das nicht zu hoch am Wind lief, um noch Fahrt zu machen, schob sich jetzt an Steuerbord gegen das Vorschiff der Schaluppe, und als der hohe Rumpf den vorderen Decksaufbau der Jenny rammte, die Verankerungen der Wanten und sogar den gekatteten Anker wegriss, schlugen klirrend und dumpf von oben die Enterhacken auf das Deck der Schaluppe, und eine raue Stimme rief: » Auf jeden von euch Bastarden ist eine Pistole gerichtet. Also lasst alle Waffen fallen, und wenn wir die Strickleiter hinablassen, kommt einer nach dem anderen langsam herauf.«

Kapitel 7
    Obwohl im Sicherheitsnetz zerbrochene Spieren schaukelten, war das Deck des Kriegsschiffs einschüchternd sauber und aufgeräumt. Die Fallen waren ordentlich in Spiralen aufgeschossen, statt einfach unaufgeschossen herumzuliegen, wie sie gerade jemand losgelassen hatte – so kannte Shandy es von der Jenny –, und er versuchte, den Kopf in den Nacken zu legen, damit kein Blut auf die bleichen, mit Sand gescheuerten Eichenplanken tropfte. Seine Nase hatte seit der Breitseite des Navy-Schiffs kräftig geblutet und die ganze linke Seite seines Kopfes begann zu schmerzen. Er kam zu dem Schluss, dass die Explosion die Drehbasse, hinter der er gestanden hatte, getroffen und ihm deren hinteres Ende gegen den Kopf geschmettert hatte.
    Zusammen mit den zehn anderen relativ unverletzten Mitgliedern der Mannschaft der Schaluppe stand er jetzt auf dem Mitteldeck beim Gangspill und versuchte, die Schreie und das Stöhnen der schwerverletzten Piraten nicht zu hören, die auf dem Deck der Jenny zurückgeblieben waren.
    Die Matrosen der Marine, die an der Reling standen und Pistolen auf die Gefangenen richteten, trugen alle enge, graue Jacken, gestreifte Kniehosen und Lederkappen, und ihre schlichte, einheitliche Kleidung ließ die bunte, von Teerflecken übersäte Tracht der Piraten lächerlich erscheinen. Shandy, der die Matrosen nervös musterte, bemerkte in ihren Mienen noch etwas anderes außer Verachtung und Zorn, und es beruhigte ihn keineswegs, als er die Regung endlich identifizierte: eine morbide Faszination, Männer anzusehen, die zwar im Moment

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