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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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traf.
    Diesmal war er so verängstigt, dass er sich wie betrunken fühlte – alle Farben waren zu kräftig, alle Geräusche zu laut. Er hatte das Gefühl, irgendwo zwischen Weinen und Erbrechen zu schweben, und er musste sich darauf konzentrieren, sich nicht in die Hosen zu machen.
    Als er die Pulverfässer mit vollen Eimern umstellt und mit nassem Segeltuch abgedeckt hatte, eilte er zurück auf Deck, wo man ihn sich gleich schnappte, ihm eine schwelende Lunte in die Hand drückte und an die Steuerborddrehbasse am Bug schickte. » Schieß nicht, bevor Hodge es sagt, Jack«, blaffte der Mann, der ihm seinen Platz angewiesen hatte. » Und dann heißt es treffen.«
    Shandy blickte über den Lauf seiner Waffe und sah, dass alle drei Schiffe nach Osten drehten, höher an den Wind, die Carmichael und die Jenny jedoch schärfer als das Kriegsschiff – das sich ihm jetzt im Dreiviertelprofil zeigte, sodass er das gelbbraune und schwarze Schachbrettmuster der Geschützpforten auf Backbord sehen konnte.
    Ich kann nicht auf ein Schiff der Royal Navy schießen, dachte er. Aber wenn ich mich weigere zu feuern, werden diese Männer mich töten … Tatsächlich könnte mich die Royal Navy, wenn ich meine Sache hier nicht gut mache, durchaus ebenfalls töten, zusammen mit allen anderen auf der Jenny. Mein Gott, es gibt für mich einfach keine akzeptable Vorgehensweise.
    Eine weiße Rauchwolke stieg von der ihnen zugewandten Seite des Navy-Schiffs auf, und einen Moment später rollte der hohle Schlag der Kanone über die halbe Meile blauen Wassers, die die Schiffe trennte. Einen Moment später rauschte es in der Luft, und hohe Gischtfontänen sprühten zu Shandys Linken aus dem Wasser, um wie eine hochgeschleuderte Schaufel voller Diamanten wieder zusammenzufallen.
    » Das ging vorbei und war zu weit«, erklang die vor Anspannung schrille Stimme von Hodge. » Schiff ist in Schussweite – Feuer!«
    Und wie viele Soldaten entdeckte auch Shandy mit einiger Überraschung, dass die intensive, erschöpfend monotone Ausbildung, die er erhalten hatte, den Gehorsam automatisch machte; er hatte gezielt, die Lunte ans Zündloch geführt und war bereits an der nächsten Drehbasse, bevor er auch nur entschieden hatte, ob er den Befehl befolgen sollte oder nicht. Nun, jetzt bist du dabei, dachte er verzweifelt, während er mit der zweiten Basse zielte; jetzt kannst du geradeso gut alles für die Seite geben, mit der du dein Schicksal verknüpft hast.
    Als er mit der Lunte das Zündloch der zweiten Drehbasse berührte, gingen die Steuerbordgeschütze der Schaluppe alle fast gleichzeitig los, und das Boot, das im Wind nach Steuerbord krängte, wurde vom Rückstoß beinahe aufgerichtet.
    Dann schob sich die Carmichael für ihre Größe furchterregend schnell in die von Rauch verschleierte Gasse zwischen dem Kriegsschiff und der Jenny, nahe genug, dass Shandy deutlich die Männer in ihrer Takelage sehen und Davies rufen hören konnte: » Feuer« – einen Moment, bevor die Steuerbordkanonen der Carmichael losgingen wie ein Donnerschlag und die Segel des Kriegsschiffes hinter einem Vorhang aus Pulverrauch verschwanden.
    Die Jenny lief im Kielwasser der Carmichael weiter hoch am Wind, und als der Pulverrauch nach achtern abzog, sah Shandy mit Entsetzen das anscheinend unbeschädigte Kriegsschiff nur hundert Schritt querab von ihnen auf gleichem Kurs. Aber als Skank ihn wieder gepackt und ihn an eine weitere Drehbasse gestellt hatte und er automatisch über dem Lauf das Kriegsschiff anvisierte, sah er, dass dieses alles andere als unversehrt geblieben war – das Sicherheitsnetz über dem Mitteldeck hing durch von heruntergeschossenen Rahen, Segel hingen in Fetzen, und das Schachbrettmuster der Geschützpforten war von einem halben Dutzend frischer, gezackt ausgebrochener Löcher verunziert. Shandy begriff außerdem, dass die Jenny schneller lief als das Schiff der Navy und in etwa einer Minute sicher an ihr vorbei sein würde. Davies hatte dem Kriegsschiff eine Breitseite verpasst, um der Jenny die Flucht zu ermöglichen.
    » Schieß auf eine vordere Stückpforte!«, brüllte Skank, und Shandy zielte gehorsam auf eine der glänzenden Kanonenmündungen, die aus dem Bug des Marineschiffs lugten, und hielt seine Lunte an das Zündloch. Seine Büchse ging mit einem gewaltigen Krachen los, und als er durch den beißenden Rauch spähte, sah er zu seiner Freude Staub und Splitter von der Stückpforte fliegen, auf die er gezielt hatte.
    » Gut!«, knurrte

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