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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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ungefähr Mittag am nächsten Tag, Dienstag, den 26. Juli, als die beiden Schiffe zwischen den Bimini-Inseln und Florida den nordwärts gerichteten Golfstrom erreichten und das Kriegsschiff der Royal Navy sie stellte.
    Als die Piraten es gesichtet hatten, war es ein weißes Fleckchen am südlichen Horizont gewesen und ihnen wie ein Handelsschiff erschienen, das ungefähr die Größe der Carmichael hatte, und mehrere der Piraten hatten halbherzig vorgeschlagen, es zu kapern, statt nach Florida zu fahren; dann rief einige Minuten später der Mann, der mit dem Teleskop im Ausguck saß, aufgeregt herunter, dass es ein Schiff der britischen Kriegsmarine sei.
    In den ersten Minuten nach dieser Entdeckung herrschte Anspannung, aber keine Panik, denn die Carmichael war auf maximale Geschwindigkeit umgerüstet worden, und die Jenny konnte sich mit Leichtigkeit durch Kreuzen in die seichten, von Korallenriffen durchzogenen Gewässer der Biminis retten, wo das Wasser vielfach nur zwölf Fuß tief war – die Jenny hatte einen Tiefgang von nur acht Fuß und konnte ungefährdet über Untiefen fahren, in deren Nähe sich das Kriegsschiff nicht wagen würde.
    Aber die Carmichael hielt ihren Südwestkurs, ihre Segel leuchtend und straff in dem tropischen Sonnenlicht, und Hodge gab ebenfalls keinen Befehl, den Kurs der Jenny zu ändern.
    » Warum warten wir, Käpt’n?«, fragte ein barbrüstiger, weißbärtiger Riese. » Wir können sie vielleicht nicht mehr abschütteln, wenn sie zu nahe herankommen.«
    Shandy hockte an der Steuerbordreling neben dem Querholz, das aus irgendeinem Grund » Katzenkopf« genannt wurde und den aufgezogenen Anker hielt, und schaute Hodge erwartungsvoll an. Shandy glaubte, eine Blässe unter der Sonnenbräune des Mannes zu entdecken, aber der Kapitän stieß üble Flüche aus und schüttelte den Kopf. » Wir würden mindestens einen Tag verlieren, wenn wir abliefen und nach einem Umweg wieder auf unseren Kurs gingen, und nach dem Regen am Samstag und dieser verdammten Liegezeit Sonntagnacht werden wir schon so alle Mühe haben, um am Vorabend des Lammasfestes den Treffpunkt in Florida zu erreichen. Nein, Männer, diesmal kann die Navy weglaufen. Teufel auch, die Carmichael ist mindestens so gut bewaffnet wie das Kriegsschiff dort drüben, und wir fahren selbst auch kein Fischerboot, und wir haben immer noch Mate Care-for und Legba und Bosu in Reserve.«
    Der stämmige alte Mann starrte Hodge ungläubig an; dann deutete er, als erkläre er einem Kind etwas, auf die nicht länger fernen Segel und sagte deutlich: » Henry – es ist die verdammte Royal Navy.«
    Hodge drehte sich wütend zu ihm um. » Und wir stehen im Kampf, Isaac, und ich bin hier heute der Kapitän und außerdem Davies’ Quartiermeister. Beim Blute Jesu, Mann, glaubst du, mir gefallen diese Befehle? Der Hunsi Kanzo wird uns alle zu Zombies machen, wenn wir jetzt kneifen – aber wenn wir auf Kurs bleiben, riskieren wir nur den Tod.«
    Zu Shandys beklommener Überraschung fand die Mannschaft diese Logik bedauerlich, aber unangreifbar, und begann hastig mit den Vorbereitungen für ein Gefecht. Die leichteren Segel wurden gerefft, und einige Männer mit Eimern voller Alaun-Lösung nach oben geschickt, um sie auf die Segel zu spritzen, damit diese nicht brannten; die Schotleinen wurden durch Ketten ersetzt, die Kanonen vorgerollt, sodass ihre Mündungen aus den Geschützluken ragten. Der Bocor trat aufs Vorschiff und begann zu singen und die Scherben eines sorgfältig zerbrochenen Spiegels nach dem britischen Schiff zu werfen. Shandy bekam Order, alle verfügbaren Eimer mit Seewasser zu füllen und ein Ersatzsegel damit zu tränken, dann sollte er das Ganze um die Pulverfässer herum anordnen.
    Während der letzten drei Wochen hatte Shandy einige Befriedigung darin gefunden, wie gut er sich bei der Kaperung der Carmichael gehalten hatte, aber als er jetzt seine Hände zittern sah, während er einen weiteren Eimer mit Seewasser über das hohe Schandeck zog, begriff er, dass seine relative Gelassenheit damals die Folge eines Schocks und – noch mehr als das – nur dank seiner Ignoranz überhaupt möglich gewesen war: Denn er hatte kaum die Tatsache begriffen, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, bevor er auch schon wieder heraus war. Doch diesmal näherte sich die Gefahr mit quälender Langsamkeit, und diesmal wusste er im Voraus genau, wie ein Mann an einer Pistolenwunde im Kopf starb oder wie ein Säbel ihn im Unterleib

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