In fremderen Gezeiten
Gesicht jetzt vor Scham –, was, wenn Schwarzbart ihn schon zuvor gewollt und die ganze scheinbar spontane Angelegenheit in Wirklichkeit geplant hatte? Was, wenn dieses erste Mädchen nur so getan hatte, als habe sie sich den Knöchel verstaucht, und tatsächlich gerade deshalb ausgewählt worden war, weil sie das magerste der Mädchen war, sodass er in der Lage sein würde, sie hochzuheben und in ihr Bett zu tragen? Sie und auch die anderen Mädchen hatten sich geweigert, bei seinen nachfolgenden Besuchen Geld von ihm zu nehmen, und darauf beharrt, dass seine beispiellose Männlichkeit Lohn genug sei? Ja, dass sie für sie sogar zu einem unentbehrlichen Heilmittel für alle möglichen Krankheiten, Unpässlichkeiten und Melancholien geworden sei? Hatte Schwarzbart sie vielleicht dafür bezahlt? Und dann zweifellos hoch bezahlt, denn zusätzlich zu ihren schlichten Diensten hatte er eine beträchtliche Menge an … Schauspielerei gekauft.
Wieder schaute er über das Wasser zu Schwarzbarts lichtlosem Schiff hinüber, diesmal voller Hass. So musste es gewesen sein, dachte er. Schwarzbart wollte ihn einfangen, und er hatte ihn ausgeforscht, um den schnellsten, einfachsten Hebel zu finden, mit dem er ihn aus seinem Platz in der wohlgeordneten Welt heraushebeln konnte. Wenn ich nicht mit dieser entmannenden Frau verheiratet gewesen wäre, hätte Schwarzbart einen anderen Hebel finden müssen … Er fragte sich, was das gewesen wäre, sein Stolz vielleicht. Er hätte ihn zu einem illegalen, aber unvermeidlichen Ehrenduell verleiten können, und er hätte sich seine Ehrlichkeit zunutze machen können …
Aber natürlich hatte er es Schwarzbart leicht gemacht. Der Hunsi Kanzo hatte Ramonas Huren nur dafür zu bezahlen brauchen, dass sie ihm zurückgaben, was seine Frau ihm genommen hatte, und dann hatte er ihn zu guter Letzt nur noch betäuben und ein Mädchen schicken müssen, das dem Aussehen und der geringschätzigen Art nach ein perfektes Duplikat seiner Frau war …
Und anschließend, während sein gequältes Herz ihn ernüchtert und er das Gesicht des toten Mädchens angestarrt hatte, das nicht länger mit irgendjemandem Ähnlichkeit hatte, war dieser böse Riese in den Raum stolziert gekommen, ein Grinsen im Gesicht wie eine freigelegte Granitader in einer Bergflanke, und er hatte ihn vor die Wahl gestellt.
Vor eine schöne Wahl.
Kapitel 10
Rechts von Beth Hurwood lag der gewaltige Sumpf, der, wie es hieß, bis weit landeinwärts reichte – in eine Region, wo Land und Wasser miteinander verschmolzen, wo Schlangen in den Teichen schwammen und Fische über die Ufer krochen, wo ein riesiges Netz von Wasserläufen und Inseln sich wie ein diabolisch belebtes Labyrinth in steter Veränderung befand und Landkarten für die Navigation ebenso nutzlos machte, wie Skizzen von Wolken es sein würden, eine Region, wo die Luft reglos stand wie stilles Wasser, eine Region, in der es von Insekten wimmelte, die zu groß waren, um zu fliegen, und sich damit begnügen mussten zu kriechen. Noch während sie zu diesem dunklen Teil der Landschaft schaute, tauchte in weiter Ferne dicht über dem Sumpf schwebend eine irisierende Kugel auf – die Piraten nannten solch ebenso unregelmäßig auftauchende wie sich bewegende Gebilde Geisterbälle. Diese erhob sich über die zarte Oberfläche des Nebels, wiegte sich langsam zwischen den Zypressenzweigen und den Blättern des Spanischen Mooses und fiel dann genauso langsam zurück in die Nebelschwaden, wie sie aufgestiegen war, bis ihr Leuchten trüber wurde und schließlich erlosch.
Beth schaute in die andere Richtung, dann aufs stahlgraue Meer hinaus, hinter dem die Sonne eine halbe Stunde zuvor untergegangen war, mit einem so gewaltigen Glühen, dass die hohen, duftigen Zirruswolken noch immer rosig leuchteten; und da sie auf höherem Grund stand und nicht von den Feuern geblendet wurde, sah sie das Segel einen Augenblick vor den Piraten.
Der erste Ruf kam von einem der drei vor Anker liegenden Schiffe, dann streckte einer der Männer unten an den Feuern die Hand aus und brüllte: » Ein Segel!«
Alle Piraten sprangen auf und rannten zu den Booten; es hieß, die Schiffe zu bemannen, falls es Ärger gab. Beth zauderte. Falls das Segel – ein einzelnes und enttäuschend klein – einem Boot der Royal Navy gehörte, wollte sie gewiss nicht an Bord eines Schiffes sein, dem es gelang, den Briten zu entfliehen. Aber wenn sie sich versteckte und zurückblieb – würde das Navy-Schiff ein
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