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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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erinnerte, waren nirgends zu sehen. Shandy konnte das Gespräch nicht hören, aber Davies unterhielt sich mit Schwarzbart; und obwohl Davies lachte und geringschätzig den Kopf schüttelte, dachte Shandy, dass er erregt wirkte – sogar verängstigt. Schwarzbart schien ein Angebot zu machen und zu schmeicheln, und Davies schien es weniger abzulehnen als viel mehr anzuzweifeln – er zweifelte an dessen Aufrichtigkeit. Zu guter Letzt seufzte Schwarzbart, trat zurück, schien sich zu wappnen und deutete auf den Sand. Shandy roch heißes Metall. Dann kräuselte der Sand sich und zuckte, als wären alle Sandkrabben gleichzeitig vom Schlag getroffen worden, und weiße Knochen begannen herauszulugen und rollten zusammen zu einem Haufen; der Haufen wogte und verlagerte sich und zitterte, dann beruhigte er sich, und Shandy begriff, dass es jetzt ein menschliches Skelett in einer hockenden Haltung war. Während Davies das Skelett anstarrte, sein schiefes Lächeln jetzt vollkommen verkrampft, richtete das Skelett sich auf und drehte sich zu ihm um. Schwarzbart sagte etwas, und das Skelett ließ sich nieder und kniete sich auf ein knochiges Knie, und es senkte den Schädel. Schwarzbart machte dann eine abschätzige Geste, woraufhin das Skelett auseinandersprang und wieder zu einem Haufen alter Knochen wurde, und Schwarzbart fuhr mit seiner schmeichelnden Rede fort. Davies antwortete immer noch nicht, aber seine erheiterte Skepsis war verflogen.
    Dann ging Shandy wieder über blutbespritzte Pflastersteine. » Kommen wir dem gottverdammten Ort näher?«, fragte er. Während er sprach, befürchtete er, seine Stimme würde seine wachsende Angst verraten, aber die abgestandene Luft hier dämpfte seine Worte, und er hörte sie kaum selbst.
    Sie gingen weiter. Einige Male dachte Shandy, er höre schlurfende Geräusche und keuchendes Schluchzen vor ihnen auf der Brücke, aber es war zu dunkel, als dass er etwas deutlich hätte erkennen können.
    Die Luft wirkte jetzt klebrig wie Sirup und zum Schneiden dick, und obwohl es ihm Angst machte, konnte Shandy sich nicht daran hindern, sich nach Schwarzbart umzudrehen … und für eine Weile hörte Shandy auf, er selbst zu sein.
    Er war der fünfzehn Jahre alte Junge, den die gesetzlosen schwarzen Bergbewohner als Johnny Con kannten. Seit seinem Missbrauch einiger der Zauber des Hungans, dem er gedient hatte, galt er nicht länger als tauglicher Helfer eines respektablen Vodun -Priesters. Er hatte kaum mehr das Recht – geschweige denn auch nur die Neigung –, sich einen Adjanikon zu nennen; Ed Thatch war sein richtiger Name, sein erwachsener Name, und in drei Tagen würde er das Recht haben, ihn zu benutzen.
    Heute würde der erste Tag seiner Weihe für den Loa sein, der sein Führer durchs Leben werden sollte und dessen Ziele er künftig teilen würde. Die schwarzen Marrons, die ihn seit Kindertagen großgezogen hatten, hatten ihn an diesem Morgen von den blauen Bergen zum Haus von Jean Petro begleitet, einem legendären Magier, der nachweislich seit mehr als hundert Jahren hier lebte und angeblich tatsächlich viele Loas gemacht hatte. Es hieß, er müsse in einem Pfahlbau leben, weil Erde rostig und steril werde, wenn sie ihm zu lange ausgesetzt sei; verglichen mit Petro, so glaubten die Leute, war jeder andere Bocor in der Karibik ein bloßer Caplata, ein Rübenbeschwörer, der seine Kunststückchen an den Straßenecken feilbot.
    Die Marrons waren entflohene Sklaven, die ursprünglich aus Senegal, Dahomey und von der Kongoküste stammten. Sie hatten keine Schwierigkeiten gehabt, sich an das Leben in den Bergdschungeln Jamaikas zu gewöhnen, und die weißen Siedler waren so beunruhigt von dieser gefährlichen und unversöhnlichen Bevölkerung, dass sie den Schwarzen einen jahreszeitlichen Tribut zahlten; als Gegenleistung verschonten diese die umliegenden Farmen und Siedlungen; aber selbst die Marrons weigerten sich, Jean Petros Haus näher als eine halbe Meile zu kommen, und der Junge ging allein den langen Pfad hinunter, der zu dem Garten und den Viehpferchen und schließlich zu dem Pfahlbau führte.
    Ein Bach floss hinter dem Haus vorbei, und dort war der alte Mann – Thatch konnte zwischen den Pfählen des Hauses hindurch seine nackten Beine sehen, knotig und dunkel wie Krücken aus Schlehenholz unter dem erhöhten Ufer. Thatch war natürlich barfuß; er brachte die Hühner, die unter dem Haus auf dem Boden scharrten, mit einer Seid-still-Geste zum Schweigen. Dann tappte er so

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