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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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–, weil Gede übermäßig viel davon verlangt. Heute werden wir …«
    » Ich bin nicht von den Bergen gekommen, um mich mit Baron Samedis Bungoboy abzugeben.«
    Jean Petro lächelte breit. » Ohhh!« Er hielt dem Jungen die Flasche hin. » Nun, warum sagst du ihm das nicht selbst? Halt einfach die Flasche hoch ins Sonnenlicht und spähe hinein, bis du ihn siehst … dann kannst du ihm deine Erwartungen klarmachen.«
    Thatch hatte noch nie mit einem Loa zu tun gehabt, aber er versuchte, selbstbewusst zu erscheinen, während er verächtlich die Flasche entgegennahm. » Also schön, Geistling«, sagte er und hielt die Flasche in die Sonne, » zeige dich!« Sein Ton war geringschätzig, aber sein Mund war trocken geworden, und sein Herz hämmerte heftig.
    Zuerst konnte er nicht mehr sehen als Luftblasen und Unreinheiten in dem primitiv geblasenen Glas, aber dann machte er eine Bewegung in dem Glas aus und konzentrierte sich darauf – und für einen Moment glaubte er, die Flasche enthalte ein federloses Vogelbaby, das mit verformten Flügeln und Beinen in einer trüben Flüssigkeit schwamm.
    Dann war da eine Stimme in seinem Kopf, die schrill in einem armseligen Französisch fiepte. Thatch verstand nur einen Teil davon, gerade genug, um zu begreifen, dass der Sprecher nicht nur Huhn und Rum verlangte, sondern beteuerte, dass er jedes Recht auf diese Dinge habe und außerdem auf so viele Süßigkeiten, wie er wolle, und er drohte mit ernsten Strafen, falls eine der Förmlichkeiten seiner Einladungszeremonie nicht mit größtem Pomp und Respekt vollführt wurde; und es solle ihn auch besser niemand auslachen. Gleichzeitig gewann Thatch den Eindruck von hohem Alter und von einer Macht, die gewaltig geworden war … einer so hohen persönlichen Stärke, obwohl nur ein Bruchstück der ursprünglichen Persönlichkeit zurückgeblieben war, wie ein Schornstein, der noch inmitten eines heftig brennenden Hauses stand. Die senile Verdrießlichkeit und die beängstigende Macht, begriff Thatch, waren keine widersprüchlichen Eigenschaften – ein jedes war irgendwie das Ergebnis des anderen.
    Dann wurde der Loa auf ihn aufmerksam. Die Schimpftirade brach ab, und er konnte spüren, dass der Sprecher sich mit einiger Verwirrung umsah. Thatch stellte sich einen sehr alten König vor, erschrocken, da er sich allein gewähnt hatte und nun hastig seine Roben arrangieren musste, sodass sie ihn geziemend bedeckten, und der sich sein spärliches Haar nach vorn kämmte, um seine Kahlheit zu verbergen.
    Zugleich rief Gede sich offensichtlich Thatchs Worte ins Gedächtnis und schenkte ihnen Aufmerksamkeit, denn die Stimme im Kopf des Jungen war plötzlich wieder da, und sie brüllte jetzt.
    » ›Geistling‹?«, tobte Gede. »› Bungoboy‹?«
    Thatchs Kopf wurde von etwas Unsichtbarem zurückgestoßen und plötzlich hatte er Blut in Nase und Mund. Er torkelte einige Schritte rückwärts und versuchte, die Flasche wegzuwerfen, aber sie klebte an seiner Hand fest.
    » Thatch ist dein Name, wie?« Die Stimme knirschte im Schädel des Jungen wie eine Säge, die eine Kokosnuss spaltete.
    Thatch’ Bauch wurde wie durch einen schweren Schlag eingedrückt – Blut spritzte ihm aus der Nase, und er plumpste hart zu Boden. Einen Moment später brachen all seine Kleider in Flammen aus. Der Junge wälzte sich brennend auf den Bach zu, und obwohl er auf dem Weg mehrmals unter unsichtbaren Tritten zuckte, schaffte er es, ins Wasser zu plumpsen. » Ich werde es dem Baron sagen«, erklang die Stimme in seinem Kopf, während er mit den Armen ruderte, immer noch außerstande, die Flasche loszuwerden, » ich werde ihm sagen, dass er dir seine ganz besondere Aufmerksamkeit schenken soll.«
    Thatch kam wieder auf die Füße, kletterte ans Ufer und setzte sich. Sein Haar war bis auf die Kopfhaut versengt, und seine Kleider sahen aus wie Vorhänge, die man aus den Trümmern eines ausgebrannten Hauses geholt hatte. Blut floss ihm den Unterarm der Hand hinunter, in der er die Flasche hielt, aber er zitterte nicht, als er das Ding der Sonne entgegenstreckte. Er grinste in die gläsernen Tiefen. » Tu das«, flüsterte er. » Du erbärmlicher, gottverdammter eingelegter Hering.«
    Das Licht wurde blasser, und plötzlich war er trocken und ging aufrecht, war wieder Jack Shandy. Die Blutspritzer auf den Pflastersteinen der Brücke folgten nicht mehr so dicht aufeinander – vielleicht hatten die verwundeten Kriecher ihre Verletzungen verbunden –, aber als er sich

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