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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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hinhockte, um eine feuchte Stelle zu berühren, prallte er entsetzt zurück. Sie war tatsächlich noch warm. Wieder – lauter jetzt – hörte er vor sich ein pfeifendes Keuchen.
    Er schaute auf und wusste mit einem Mal, warum ihm diese Brücke bekannt vorgekommen war. Er hatte die beiden blutenden Kriecher jetzt direkt vor den Füßen; das weiße Haar des einen war verfilzt von glänzender Dunkelheit, und der andere, jüngere versuchte zu kriechen, ohne mit der rechten Hand den Boden zu berühren; die Finger dieser Hand waren verbogen und schwarz geschwollen. Die Lichter der Stadt Nantes flackerten schwach, und Shandy wusste, dass diese Verletzten von keinem hilfsbereiten Passanten gesehen werden würden. Vielmehr würden sie den ganzen Weg bis zurück in ihr Zimmer kriechen müssen und in ihre unbequemen Betten und zu den allgegenwärtigen Marionetten.
    Shandy lief voraus und hockte sich dann vor seinen Vater auf den Pfad. Eins der Augen des alten Mannes war unter mit Dreck verkrustetem Blut verborgen, und Shandy wusste, dass es das Auge war, das er verlieren würde. Das Gesicht des alten Mannes war verkrampft vor Anstrengung und sein Atem pfiff durch die frischen Lücken in der Reihe seiner gebleckten Zähne.
    » Dad!«, sagte Shandy drängend, als das verwüstete Gesicht seines Vaters näher kam. » Dad, du hast eine Menge Geld geerbt! Dein Vater ist gestorben und hat dir seine Güter hinterlassen! Melde dich bei den Behörden in Tahiti, in Port-au-Prince!«
    Der alte François Chandagnac hörte ihn nicht. Shandy versuchte noch zweimal, seine Nachricht zu übermitteln, dann gab er es auf und wandte sich dem anderen verletzten Kriecher zu, dem einundzwanzig Jahre alten John Chandagnac.
    » John«, begann Shandy, als er sich vor sein jüngeres Ich aus seiner Erinnerung hinhockte, » hör zu. Verlass deinen Vater nicht! Nimm ihn mit. Mach dir die Mühe, du … du gottverdammter hölzerner Chorknabe!« Er sprach mit erstickter Stimme, und Tränen rannen über sein älteres, bärtiges Gesicht, als wollten sie sich dem Blut anpassen, das über das jüngere Gesicht strömte. » Er kann es nicht allein schaffen, aber er wird es dir gegenüber nicht zugeben! Verlass ihn nicht, er ist alles, was du auf der Welt hast, und er liebt dich, und er wird allein an Kälte und Hunger sterben. Er wird an dich denken, während du behaglich in England sitzt und nicht an ihn denkst …«
    Die kriechende Gestalt nahm ihn nicht wahr. Shandy, der bereits kniete, senkte die Stirn auf die Pflastersteine und schluchzte rau, während das Bild seines jüngeren Ichs mitten durch ihn hindurchkroch, so körperlos wie ein Schatten.
    Jemand schüttelte ihn an der Schulter. Er schaute auf. Davies’ hageres Gesicht grinste auf ihn herab, nicht ohne Mitgefühl. » Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen, Jack«, sagte der alte Pirat. Er deutete mit dem Kopf an Shandy vorbei, nach vorn. » Wir sind da.«

Kapitel 14
    Die Brücke war verschwunden, und verspätet fragte Shandy sich, ob einer der anderen sie überhaupt je gesehen hatte. Hatte Hurwood zum Beispiel das Ganze als einen Marsch durch einen unmöglich langen Kirchengang erlebt? Jetzt standen sie am oberen Rand eines schlammigen Hangs, schauten hinab, und Shandy spürte, wie eine eisige Feuchtigkeit die Knie seiner Hosen durchdrang.
    Er sah sich beunruhigt um, und seine frühere Panik kehrte zurück, denn irgendetwas fühlte sich hier ganz und gar falsch an, ganz und gar verwirrend – aber er konnte keine Erklärung für das Gefühl entdecken. Der Rand des schlammigen Hangs setzte sich zu beiden Seiten von ihnen fort und lief, wie er im fahlen Licht sah, in einiger Entfernung wieder zusammen. Es war eine Grube mit einer Böschung und auf ihrem Grund sprudelte und plätscherte Wasser. Über ihnen zog eine Wolkendecke unheimlich schnell über den Himmel und wurde von oben beleuchtet, wahrscheinlich durch den Mond. Er schaute seine sieben Gefährten an, um festzustellen, ob sie sein Unbehagen teilten. Das ließ sich schwer erkennen. Beth hatte das Bewusstsein wiedererlangt – Shandy fragte sich, wann –, blinzelte jedoch nur benommen, und Bonnett wirkte so ausdruckslos wie eine einbalsamierte Leiche.
    » Vorwärts«, sagte Hurwood, und sie alle setzten sich hangabwärts in Bewegung.
    Obwohl er mehrere Male ausrutschte und durch den Schlamm schlitterte, bedrückte Shandy die Vorstellung, wie fest die Erde hier war. Sie gab ihm ein klaustrophobisches Gefühl, trotz der hohen Wolken.
    Dann kam ihm

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