In Gedanken bei dir (German Edition)
auszuziehen. Auf dem Parkett mochte
sie gern barfuß gehen. Das hatte sie auf dem Hausboot auch immer getan. Die
Ellbogen auf die Knie gestützt, lehnte sie sich vor und schaute den Flur
entlang. »Im Wohnzimmer brennt ja Licht.«
»Im
Schlafzimmer auch. Ich habe Zeitschaltuhren angebracht.«
Cassie
legte den Kopf schief. »Du hasst es, in ein dunkles und leeres Haus
zurückzukommen.«
»Den
Fernseher habe ich auch an eine Zeitschaltuhr gehängt. Falls ich früher nach
Hause komme.«
Sie
nickte und stopfte die Socken in die Schuhe, die sie ordentlich vor den Stuhl
stellte. Ein Zeichen von Befangenheit: Ich bin hier nicht zu Hause. »Welcher
Sender?«
»Kinderfernsehen.«
In der Küchentür blieb er stehen und versuchte, cool und easy auszusehen. Aber
er wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Unruhig, Alex? Aufgeregt?
Bei deiner eigenen Frau? »Willst du was trinken?«
Sie
sprang auf und versuchte mit einem Blick in den Spiegel, ihre kurzen Haare mit
den Fingern wieder in Form zu bringen. Damit wollte sie ihre eigene
Verunsicherung überspielen. Alex glaubte, sie wüsste nicht genau, was sie
eigentlich wollte. Alternative eins: Sie setzt sich in ihren Wildtrak und fährt
sofort zurück zu Jolie, um bei ihrer Tochter zu sein. Und Alternative zwei?
»Was
hast du denn?«, fragte sie.
»Whiskey,
Rotwein, Bier, Kaffee, Kakao, Milch, Trinkjoghurt, Apfelsaft und Wasser. Ich
kann dir aber auch einen frisch gepressten Orangensaft machen.«
»Hast
du den Supermarkt leergekauft?«
»Na
ja, fast. Im Toutle Valley gibt’s nur einen kleinen Markt, der zu einer
Tankstelle gehört. Ich habe eingeladen, was ich kriegen konnte. Marlee und die
Kinder kommen am Wochenende.«
»Machst
du mir einen Kaffee?«
»Mit
Wasser?«
Sie
lächelte matt. »Aber nur so viel, dass der Löffel aufrecht stehen bleibt.«
»Okay.«
Während
er die Kaffeemaschine vorbereitete, schlenderte Cassie ins Wohnzimmer, um sich
dort umzusehen. Sobald der Kaffee in die Kanne sprotzelte, zog er seine
Wanderstiefel und die Socken aus und folgte ihr. In der offenen Tür blieb er
stehen, schob die Hände in die Taschen und beobachtete sie.
»Du
hast einen Kamin.«
Mit
der Schulter lehnte Alex sich gegen den Türrahmen und überkreuzte lässig die
Füße. »Im Winter wird es hier kalt. Und es liegt Schnee.«
»Machst
du ihn oft an?«
»Fast
jeden Abend. Es ist sehr gemütlich. Das flackernde Licht, das Knacken der
Scheite, die Wärme, der Geruch. Ich mag das sehr.«
Sie
nickte langsam und drehte sich zum weißen Ledersofa und der alten Truhe als
Couchtisch um. Ein Stapel National Geographics und Nature lag
dort. »Liegst du dann hier und liest?«
»Ja,
sehr oft«, nickte er. »An Sommerabenden so wie heute liege ich auch gern auf
meiner Verandaschaukel. Die habe ich selbst gebaut, aus Treibholz, das ich am
Ufer des Columbia River gefunden habe. Vielleicht stammt der Baum aus dem Wald,
der jetzt unter dem neuen Lauf des Toutle River begraben liegt. Du weißt schon,
wo wir heute Mittag das GPS-Modul aufgebaut haben. Nach der Eruption des Mount
St Helens ist der Stamm durch die gewaltige Flutwelle und die Schlammlawine
fast bis zum Pazifik geschwemmt worden.«
Vor
dem Bücherregal blieb Cassie stehen und las mit geneigtem Kopf die Titel der
zerlesenen Thriller von John J. Nance und Michael Crichton. Dann ging sie
langsam weiter und führte eine fachgerechte und systematische Bestandsaufnahme
durch, als wäre das Haus, in dem er lebte, ein neues Projekt.
Wie
sind noch mal die Arbeitsschritte einer Archäologin?, dachte Alex. Entdeckung,
Dokumentation, Freilegung und Bergung, akribische Rekonstruktion und
wissenschaftlicher Befund. Oder so ähnlich. Cassie ist noch bei der Entdeckung
und Erforschung meines Lebens. Und wie behutsam sie die Dinge, Erinnerungen an
unsere gemeinsamen Reisen, aus dem Regal nimmt, von allen Seiten betrachtet und
präzise ausgerichtet wieder zurückstellt. Als fürchte sie, etwas zu verändern,
das ich später, wenn sie gegangen ist, wieder zurechtrücken müsste. Ihr muss
doch bewusst sein, dass sie genau das bereits getan hat. Sie ist gekommen, und
sie hat etwas in Bewegung gesetzt, das sich jetzt nicht mehr aufhalten lässt.
Wie
soll ich dieses Gefühl beschreiben? Es ist, als ob sich die Kontinentaldrift
nach hundertdreißig Millionen Jahren am Punkt der größten Entfernung plötzlich
umkehrt, als ob sich die Landmassen, die jetzt noch durch einen weiten Ozean
getrennt sind, auf einmal wieder annähern. Ich
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