In Gedanken bei dir (German Edition)
reparieren.
Oder auch nur einzusammeln.
Steine
prasselten am Hang herunter, und Alex spürte eine leichte seismische Aktivität
unter den Sohlen seiner Stiefel. Ging es wieder los?
Er
lauschte mit angehaltenem Atem.
Nein,
da war kein leises Grollen, kein Zittern und Beben im geborstenen Gestein des
Kraters. Alles war wieder ruhig.
Als
er seinen Blick über den rauchenden Lavadome schweifen ließ, der schroff und
wuchtig über ihm aufragte, und nach dem Satellitentelefon an seinem Gürtel
tastete, um Jake Bescheid zu sagen, begann Cassie endlich zu reden: »Du hast
mich eben gefragt, wie es Jolie geht.«
Alex
drehte sich zu ihr um. Als er ihr Gesicht sah, die aufgerissenen Augen und die
verkniffenen Lippen, steckte er das Iridium wieder weg.
»Sie
stirbt.«
Er
wusste nicht, was er sagen sollte, außer: »Cassie, das tut mir so ...«
»Du
hast das Youtube-Video gesehen.«
»Marlee
hat mir gestern Abend den Link geschickt«, nickte er beklommen. »Cassie, ich
...«
»Alex,
sie sehnt sich nach ihrem Vater.«
»Aber
wo ist Nick? Und wieso ist er nicht für Jolie und dich da?«
Sie
schüttelte den Kopf. »Er ist für uns da, Alex. Du solltest ihn mal sehen, wenn
er mit Jolie spielt oder mit ihr singt oder ihr vorliest und dabei mit ihr
kuschelt und schmust. Er ist ein wundervoller Daddy.«
»Aber
...«
»Nick
ist nicht Jolies Vater.«
Die
Worte hingen zwischen ihnen in der kühlen Luft. Alex versuchte sie zu greifen,
zu drehen und zu wenden, aber es gelang ihm nicht, ihnen eine sinnvolle
Bedeutung beizumessen. »Aber wer ist es dann?«
Cassie
breitete die Arme aus, Handflächen nach oben, und sah ihn an. »Ahnst du es denn
nicht?«
»Was
denn?«
»Alex, du
bist es. Du bist Jolies Daddy.«
Eine
Hitzewelle jagte plötzlich durch seinen Körper, und seine Knie zitterten auf
einmal so sehr, dass er sich auf einen Felsen setzen musste. Cassie hockte sich
neben ihn, nahm seine Hand und zog sie auf ihren Schoß. Heiß und kalt wogten
die aufgewühlten Gefühle durch sein Herz und seinen Verstand. Ein Sturm von
Gedanken toste hinterher:
Ich
bin Vater. Ich habe eine Tochter.
Aber
wie lange noch?
Mein
Kind stirbt.
Jolie
will mich umarmen und »Ich hab dich lieb, Daddy« zu mir sagen.
Seine
Augen brannten vor Tränen.
Cassie
ahnte, was in ihm vorging, und drückte seine Hand auf ihrem Schoß.
Wenn
dies Jolies letzte Tage sind, dann sollen es glückliche Tage sein. Sie soll
lächeln, wie auf dem Foto, das im Fernsehen eingeblendet wurde. Sie soll
lachen, weil ihr letzter Wunsch in Erfüllung geht.
Alex
konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Das
Gefühl in mir?, dachte er. Schwer zu beschreiben: Man bekommt ein wundervolles
Geschenk, das größte Geschenk von allen: ein Kind, das man liebhaben will und
auf das man stolz sein will, und es wird einem gleich wieder aus den Armen
gerissen. Und man muss zusehen, wie das Geschenk zerstört wird, wie es
zerbricht und zerfällt und vergeht. Enttäuschung. Wut. Angst. Aber am
schlimmsten ist für mich die Trauer. Dieser Schmerz ist wirklich unerträglich,
und er wird immer stärker. Die Druckwelle reißt mich von den Füßen.
Cassie
nahm sein tränennasses Gesicht in ihre Hände und küsste ihn sanft. »Schhht.«
Sie
umarmten sich ganz eng, und Cassie gab ihm einen Halt, an den er sich anlehnen
konnte. Eine Weile saßen sie so, und die Wärme und die Geborgenheit, die sie
ihm schenkte, machten den Schmerz zwar nicht erträglicher, ihn aber stärker.
Schließlich
zog sie ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Jeans und zeigte es ihm. »Alex, ich
habe eine Nachricht von unserer Tochter für dich. Ich habe das Video
aufgenommen, bevor ich gekommen bin, um dich zu holen. Willst du’s dir
ansehen?«
Alex
wischte sich die Tränen ab und nickte.
Cassie
rief das Video auf und drückte ihm das Handy in die Hand. »Willst du lieber
allein sein ... mit ihr?«
»Nein,
bitte bleib hier. Wir sehen es uns gemeinsam an.«
Ermutigend
streichelte sie seine Hand. »Okay.«
Er
drückte den Play-Button, und das Video startete.
Cassie
und Jolie lagen in die Kissen eines Bettes gekuschelt. Das Design der
Bettwäsche zeigte offenbar eine Unterwasserszene, von der Alex nur das
türkisblaue Wasser und die aufsteigenden Luftbläschen auf dem Kopfkissen
erkennen konnte. Jolies Gesicht war blass, und mit dem geblümten Kopftuch auf
ihrem kahlen Kopf wirkte sie sehr klein und zerbrechlich.
Cassie
hielt das Smartphone, mit dem sie diese Szene aufnahm, am ausgestreckten Arm
über
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